Jerusalem-Syndrom: "Herbert hielt sich für den Messias"

Jerusalem-Syndrom: "Herbert hielt sich für den Messias"
Immer wieder zieht es Menschen nach Jerusalem, die sich für eine biblische Figur halten. Doch die meisten verwirrten Pilger leiden Psychiatern zufolge schon zu Hause unter psychischen Störungen. Das spontan auftretende Jerusalem-Syndrom dagegen wird immer seltener.
15.08.2010
Von Marlene Halser

Herbert war so ein Fall. Er kam nach Jerusalem, weil er sich für den Messias hielt. Regelmäßig belagerte er Propst Uwe Gräbe am Eingang zur evangelischen Erlöserkirche in der Jerusalemer Altstadt. Pilger, die unter dem so genannten Jerusalemsyndrom leiden, hat der Propst während seiner vierjährigen Amtszeit einige gesehen.

"Es passiert fast täglich, dass mir Leute an der Kirchentüre erzählen, wie viele Tage uns noch bis zum Jüngsten Gericht bleiben", sagt Gräbe. Es sind diese gesellschaftlich akzeptierten Fälle, mit denen er meistens zu tun hat. "Die ganz massiven Fälle gibt es kaum mehr", sagt Gräbe. Nur einmal, vor etwas drei Jahren, habe er einen Krankenwagen rufen müssen.

Das "Jerusalem-Syndrom": Ein echtes Krankheitsbild

Damals stand ein Mann auf dem Dach des Lutherischen Gästehauses in der Altstadt. Gen Tempelberg und Klagemauer gewandt, predigte er, Juden und Muslime mögen sich schleunigst zum Christentum bekehren, denn in sechs Stunden würde der Herr selbst in der Heiligen Stadt eintreffen. "Wenn ich das Gefühl habe, dass die Menschen für sich und andere eine Gefahr sind, dann rufe ich einen Krankenwagen", sagt Gräbe. Der Prediger auf dem Dach war so ein Fall. Das religiöse Gleichgewicht zwischen Juden, Muslimen und Christen ist in der Jerusalemer Altstadt äußerst fragil.

In den 1980er Jahren wurde das Jerusalemsyndrom durch den israelischen Arzt Yair Bar El am Kfar Shaul Medical Center als Krankheitsbild diagnostiziert und benannt. Gregory Katz, ebenfalls Arzt an der psychiatrischen Klinik, unterscheidet inzwischen das "reine" Jerusalemsyndrom vom so genannten "überlagerten" Jerusalemsyndrom. Bei dieser zweiten, weitaus häufigeren Form leiden die Patienten schon länger unter psychologischen Störungen.

So wie Herbert, der sich für den Messias hielt. "Herbert reiste wieder und wieder als Tourist nach Israel ein, überzog ständig sein Visum", erinnert sich Gräbe. Irgendwann hatten die Israelis genug. Seitdem hat Gräbe den selbsternannten Jesus nicht mehr gesehen.

Das "reine" Jerusalemsyndrom gilt im Gegensatz dazu als akut auftretende Psychose. Der oder die Betroffene leidet unter Wahnvorstellungen, identifiziert sich vollständig mit einer biblischen Gestalt und gibt sich als diese aus. Viele Betroffene legen ihre normale Kleidung ab, hüllen sich in weiße Gewänder und ziehen predigend und betend durch die Altstadt.

Das Jerusalem-Syndrom befällt nur religiöse Menschen

Doch der Anfall von geistiger Verwirrung ist meist von kurzer Dauer. Schon nach wenigen Tagen in einer Klinik mit leichten Beruhigungsmitteln und Gesprächstherapie sind die Symptome behoben. "Oft erinnern sich die Patienten gar nicht so recht daran, was mit ihnen geschehen ist", sagt der Mediziner Katz. "Viele schämen sich auch und wollen den Vorfall so schnell wie möglich vergessen."

Solche Patienten, die unter dem reinen Jerusalemsyndrom litten, gäbe es immer weniger, sagt der Psychiater. Bis zur Jahrtausendwende habe das Krankenhaus zwei bis drei Fälle jährlich behandelt. "Heute haben wir meist nur noch einen Fall pro Jahr." Als Grund für den Rückgang vermutet Katz die abnehmende Religiosität der Touristen. Denn das Jerusalemsyndrom befällt bei weitem nicht jeden.

Die betroffenen Personen seien in allen Fällen extrem religiös und stammten in der Regel aus abgelegenen, ländlichen Gegenden. Für viele sei die Reise nach Jerusalem der erste Aufenthalt im Ausland. Bedingungen, die in der heutigen, globalisierten und zunehmend säkularen westlichen Welt immer seltener werden. Propst Gräbe ist froh, wenn es bei den marginalen Fällen bleibt. Seine Lösung: "Ich setzte mein stoisches Gesicht auf, lausche und lasse sie des Weges ziehen."

epd