60 Jahre: Zentralrat der Juden sucht neue Rolle

60 Jahre: Zentralrat der Juden sucht neue Rolle
Er repräsentiert 108 Gemeinden mit rund 106.000 Mitgliedern: der Zentralrat der Juden in Deutschland. Am 19. Juli 1950 wurde er gegründet, und es war nicht selbstverständlich, im Land der Täter wieder jüdisches Leben aufzubauen.
16.07.2010
Von Jutta Wagemann

Das Jubiläum wird erst mit vier Monaten Verspätung gewürdigt. Im November will der Zentralrat der Juden in Deutschland an seine Gründung vor 60 Jahren, am 19. Juli 1950, erinnern. Der Verband ist nicht in Feierlaune. Denn öffentliche Aufmerksamkeit wird im November ein anderes Ereignis auf sich ziehen: die Wahl eines neuen Präsidenten. Charlotte Knobloch, die letzte Holocaust-Überlebende an der Spitze des Verbandes, tritt nach heftigen internen Querelen ab. Der Zentralrat ist auf der Suche nach einer neuen Rolle.

Eigentlich könnte der Dachverband von 108 jüdischen Gemeinden mit rund 106.000 Mitgliedern zufrieden auf eine Erfolgsgeschichte zurückblicken. Nach dem Zweiten Weltkrieg und der Ermordung von sechs Millionen Juden war es alles andere als selbstverständlich, im Land der Täter wieder jüdisches Leben aufzubauen. Von den einst 500.000 deutschen Juden war nicht einmal ein Zehntel übrig. Rund 15.000 Juden lebten in der Bundesrepublik, als sich 1950 in Frankfurt am Main der Zentralrat konstituierte.

Der neue Dachverband verstand sich als politische Interessenvertretung, nicht als religiöse Instanz. Er stand vor gewaltigen Herausforderungen: Die bundesdeutsche Mehrheitsgesellschaft verdrängte ihre Vergangenheit. Die Juden saßen innerlich "auf gepackten Koffern". Zugleich wurde in Israel immer wieder Unverständnis darüber artikuliert, dass Juden freiwillig in Deutschland lebten. Zentralratsvorsitzende wie Heinz Galinski und Ignatz Bubis wurden in der Bundesrepublik zu moralischen Instanzen. Die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit, Antisemitismus, Rechtsextremismus - die Mahnungen und Warnungen des Zentralrats waren allgegenwärtig.

Zuwanderung aus der Sowjetunion

1990 begann die Zuwanderung von Juden aus der ehemaligen Sowjetunion - die das Judentum in Deutschland nachhaltig verändert hat. Die Zahl der Juden in Deutschland stieg von rund 25.000 auf heute 110.000 an. Die Integration der Einwanderer, die in ihrer Heimat meistens wenig Berührung mit dem Judentum gehabt hatten, wurde zur vordringlichen Aufgabe des Zentralrats. Seit 2008 erhält der Verband, unter anderem für die Integration, jährlich fünf Millionen Euro von der Bundesregierung.

Aus der "bleischweren Rolle des Moralwächters" will die heutige Führungsriege des Zentralrats heraus. Vizepräsident Dieter Graumann verschweigt zwar die Verwerfungen nicht, die die Zuwanderer in vielen jüdischen Gemeinden auslösten, doch er betrachtet die neue Vielfalt als Bereicherung - und will dies nach außen, aber auch im Verband selbst deutlich machen.

"Die Öffentlichkeit nimmt uns oft nur in zwei Rollen wahr: als traurige Opfer von früher oder als lästige Dauermahner von heute", sagt Graumann. Aus dieser "Dauermeckerecke" will er heraus. Solche programmatischen Ansagen sind von dem 59-jährigen Unternehmer aus Frankfurt am Main häufig zu hören. Er gilt als aussichtsreichster Kandidat für die Nachfolge von Charlotte Knobloch.

Jahre im Verborgenen

Über die Präsidentin findet Graumann nur lobende Worte. Knobloch habe eine Lebensleistung für die jüdische Gemeinschaft erbracht, "vor der ich nur den Hut ziehen kann." Sie habe den Zentralrat kraftvoll geführt und mit Würde repräsentiert. "Für diese Leistung verdient sie jeden Respekt. Meinen hat sie", sagt der Vizepräsident. Doch als sich um den Jahreswechsel 2009/2010 Medienberichte häuften, in denen es hieß, Knoblochs Stellvertreter Graumann und Salomon Korn sowie Generalsekretär Stephan J. Kramer sägten an ihrem Stuhl, dementierte keiner der drei. Am 7. Februar erklärte die 77-jährige Knobloch offiziell, dass sie nicht für eine zweite Amtszeit kandidiert.

Knobloch überlebte den Holocaust in Franken, weil sie als uneheliches Kind einer Katholikin ausgegeben wurde. Die Jahre im Verborgenen haben sie geprägt. Als nach dem plötzlichen Tod von Paul Spiegel der Zentralrat 2005 einen neuen Präsidenten brauchte, führte an ihr kein Weg vorbei: Sie war in der Führungsriege die einzige, die den Holocaust noch selbst miterlebt hatte.

Der in Israel geborene Graumann ist ebenso wie Salomon Korn ein Kind von Holocaust-Überlebenden. Ungefragt versichert Graumann, dass die Erinnerung an die Ermordung von sechs Millionen Juden wichtiger Bestandteil der Arbeit des Zentralrats bleiben wird. Wer jetzt sage, mit dem Abtritt der "Erlebnisgeneration" sei der Holocaust abgearbeitet, liege falsch. Das sei auch an seiner eigenen Person zu sehen. "Ich war nicht im Holocaust, aber der Holocaust ist in mir."

epd