Wenn Menschen glauben, ohne Glauben leben zu können

Wenn Menschen glauben, ohne Glauben leben zu können

"Glauben" heißt, etwas (nur) für zu wahr halten, statt es zu wissen – das weiß doch jedes Kind. So glauben jedenfalls viele. Um Religion zu verstehen, muss man aber wissen: "Glauben" bedeutet noch etwas anderes.

Heute mal ein wirklich grundsätzliches Thema dieses Blogs, der schließlich "Glaube und Wissen" heißt. Denn eine Auseinandersetzung mit diesem Oberthema beinhaltet natürlich, zu klären, was man unter "Glaube" und "Wissen" denn jeweils versteht. Beides habe ich bisher nicht groß diskutiert, nur in einem Post die mit "Wissen" offensichtlich zusammenhängende Frage nach dem Wesen der (Natur-)Wissenschaft gestreift

Wie sieht es nun mit dem "Glauben" aus? Ist es schlichtweg das Gegenteil von "Wissen", wie es öfter heißt? Mich mit dieser Frage nun endlich mal auseinander zu setzen, dazu hat mich der Theologe und Blogger-Kollege Hermann Aichele mit seinem aktuellen Beitrag "Ich glaub', ich glaube anders" motiviert. Er nimmt darin eine ganz witzige Twitter-Meldung über einen inzwischen zurückgetretenen Politiker zum Aufhänger:

           "Große Mehrheit glaubt nicht mehr an NN " ...
           Und ich dachte immer den gibt's wirklich...

Ein nettes Spiel mit zwei grundlegenden, offensichtlich ziemlich verschiedenen Facetten des Wortes "glauben". Und es sind nicht die einzigen. Hier einige Beispielsätze:

  1. "Ich glaube, Hans wollte auch kommen": Im alltäglichen Sprachgebrauch steht "glauben" meistens für meinen, denken, vermuten – wobei der Sprecher durch die Formulierung "Ich glaube .." deutlich macht, dass er es eben nicht genau weiß. "Glauben" steht hier also für eine Qualität von Erkenntnis, die sich von "Wissen" unterscheidet. Die Einleitung "Ich glaube" stuft die Zuverlässigkeit der nachfolgenden Aussage herab.

  2. "Ich glaube an dich": Dieser Satz drückt einen Zuspruch aus, \tetwa im Sinne von "du schaffst das", und – sofern der Sprecher aufrichtig ist – durchaus auch eine feste Überzeugung. In diesem Sinne war das Zitat in der Twitter-Meldung ursprünglich gemeint. Mit einer Herabstufung einer Aussage-Zuverlässigkeit hat das "glauben" hier nichts zu tun. Stattdessen beschreibt es Vertrauen und innere Nähe, stiftet Beziehung, bewegt sich damit auf einer ganz anderen – ich würde sagen: existenzielleren – Ebene als die sachliche Aussage aus Beispiel 1.

  3. "Klein Hänschen glaubt noch an den Osterhasen": Hier bedeutet "glauben an XY" so viel wie "von der Existenz von XY ausgehen" – so hat der Twitterer aus dem Beispiel ganz oben die zitierte Schlagzeile (bewusst) falsch verstanden. Anders als in Fall 1 schließt "glauben" hier keine Unsicherheit von Hänschens Seite ein – er würde wohl kaum von sich sagen "ich glaube an den Osterhasen", sondern so über den Osterhasen reden, als sei dessen Existenz gewiss. Der Sprechende weiß dagegen, dass es keinen Osterhasen gibt. Insofern hängt "glauben" hier wie in Beispiel 1 eng mit "nicht wissen" zusammen – anders als dort wird dem Glaubenden (also Hänschen) hier Verblendung unterstellt.

  4. "Hänschen glaubt seinen Eltern": Hier liegt gewissermaßen die tiefere Wahrheit bezüglich des Osterhasen aus Beispiel 3. "Glauben" heißt, jedenfalls in Verbindung mit einem Dativobjekt, der Aussage des anderen zu trauen. Es handelt sich hier \twieder um einen existenziellen Vorgang auf der Beziehungsebene. Für den Glaubenden drückt "ich glaube" hier keineswegs die Unsicherheit seines Wissens aus, sondern Vertrauen und die Bereitschaft, sich auf dessen Aussage zu verlassen.

  5. "Ich glaube, dass das Wetter heute schön bleibt" – sprach's und startete in T-Shirt und Shorts, ohne weitere Kleidung im Gepäck, zur großen Fahrradtour. Gerne bildet \tman ja Beispielsätze mit "glauben" und "Wetter" im Sinne von Fall 1, wo die Betonung der Ungewissheit im Vordergrund steht. Hier aber bringt "glauben" eine Überzeugung mit existenzieller Dimension zum Ausdruck, ganz analog zu Beispiel 4.

Glauben keine Verweigerung von Wissen

Meine These ist nun: Viele der Menschen, die mit Religion nichts anfangen können oder sich gar dazu berufen sehen, sie zu verteufeln, denken sich den Glauben der Gläubigen im Sinne von Beispiel 3. Sie sehen religiöse Menschen als verblendete Hänschen und sich selber in der Rolle des gönnerhaften, wissenden Beobachters. Wenn sie dann Religion kritisieren wollen, können sie entweder die Kirche mit den Eltern aus Satz 4 identifizieren und ihr vorwerfen, schuld an der Verblendung zu sein. Oder sie können mit Satz 1 daherkommen, daraus Argumente à la "Glauben heißt ja eben NICHT wissen" stricken. Militantere Nicht-Gläubige (miss-)verstehen auf dieser Basis dann jeden religiösen Glauben als eine Art "Blindheit aufgrund von Erkenntnis-Faulheit" und diffamieren religiöse Menschen deswegen gern als tumbe "Religioten" (wovon man sich etwa in den Kommentaren des einschlägigen "Atheist Media Blog" überzeugen kann).

Ich würde dagegen sagen: Beispiel 3 ist als Bezugspunkt gar nicht so falsch – statt des Osterhasen sollte man nur besser Objekte wie "das Gute im Menschen", "die Liebe" oder "die Rettung Griechenlands und des Euro" einsetzen. Denn dann wird klar: Der Sprechende, der mit seiner Aussage den Glauben einer anderen Person kritisiert, glaubt es zwar besser zu wissen ("glaubt" im Sinne von Satz 5). Aber ein absolutes, objektives, wissenschaftlich bewährtes oder sonstwie an einen allgemeinen Konsens gebundenes Wissen gibt es hier nicht. Wer recht hat, der Glaubende oder der Glaubens-Kritiker, ist (zumindest bis auf Weiteres) nicht mit abschließender Sicherheit zu beurteilen.

Mit dem Beispiel aus Satz 1 – also mit Glaube, der in direkter Konkurrenz zu möglichem oder tatsächlich vorhandenem Wissen steht – hat der Glaube eines religiös gläubigen Menschen nichts zu tun. Wenn doch, wie etwa bei kreationistischen Überzeugungen oder bei einer Degradierung Gottes zum Lückenfüller unvollständiger wissenschaftlicher Theorien, dann ist das auch aus Glaubenssicht kritikwürdig. Ansonsten laufen die entsprechenden Gegenargumente aber ins Leere. Und bei Satz 3, also dem Glauben an Gottes Existenz, bleibt der Glaube nicht stehen – sonst wäre er bloßes Lippenbekenntnis, toter Glaube.

Lebendiger Glaube befähigt zum Wagnis

Vielmehr steht Satz 4 im Zentrum lebendigen Glaubens (Als Christ glaube ich Gott, dass er mich wertschätzt und es gut mit mir meint. Ich glaube Jesus Christus, dass er – wie er etwa laut Überlieferung im Johannesevangelium gesagt hat – der Weg zum Vater ist. Und so weiter.). Sätze im Stil von Beispiel 5 ergeben sich daraus sofort, wie die Aussagen in der letzten Klammer zeigen – aber diese Glaubenssätze sind dann eben keine blutleeren Dogmen, sondern Ausdruck einer vertrauensvollen Beziehung. Und sie sind Basis für mein Verhalten, zumindest für meinen Umgang mit bestimmten Situationen und Entscheidungen – ganz so wie für den Radfahrer, der vielleicht gar keine Regenkleidung besitzt, sich aufgrund seines Glaubens aber dennoch auf die große Tour wagt.

Glauben entfaltet sich also nicht in der Zustimmung zu irgendwelchen Aussagen, sondern im existenziellen Vollzug. Solch ein Glaubenssystem ist der Boden, auf dem ein Mensch durchs Leben geht. Oder, wie der bereits eingangs zitierte Hermann Aichele es am Ende seines – ganz anderen – Gedankengangs ausdrückt: "die bloße Richtigkeit einer Aussage (...) ist ziemlich weit entfernt von dem, was im Kern des Glaubens gemeint ist: Eine Form der Lebensgestaltung, des Lebensengagements, das eng verbunden ist mit Vertrauen, Treue, Mut. Es geht nicht um die richtigen (metaphysischen) Vorstellungen, sondern um die richtige (Lebens-)Einstellung."

Was nun richtig und was falsch ist, ob es die christliche Variante sein muss, worin diese überhaupt genau besteht oder ob man nicht auch ohne Gott auskommen könnte, darüber lässt sich natürlich immer noch trefflich streiten. Aber dass ein Mensch ums "Glauben" im Sinne der Beispielsätze 4 und 5 mit ihrer existenziellen Dimension ganz herumkommen könnte, ohne in Angst und Lähmung unterzugehen – das glaube ich nicht.

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