Plattform am Handgelenk

Plattform am Handgelenk
Wird die "Hand off-Funktion" den Journalismus retten? Eher das Feuern von Verlags-Geschäftsführern? Außerdem: Graf Stanislaw und die SPD; blöde, rücksichtslose und gemeine Journalisten. Sowie ein Nazi-Angriff auf einen Journalisten.

Wie hieß es gestern hier im Korb? "Ein amerikanischer Konzern hat den Verkaufsstart einer Uhr angekündigt, die man 18 Stunden am Stück benutzen kann."

Natürlich soll dieses dolle Ding wieder Funktionalitäten besitzen. Womöglich wird es den Qualitätsjournalismus retten, so wie bereits das iPad ihn gerettet hat (oder sogar so, wie iTunes die Musikindustrie gerettet hatten). Jedenfalls preschte ein deutscher Konzern, dessen Gallisonfigur mit derjenigen des amerikanischen Konzerns dicke ist, bereits vor und kündigte "zum Start der Apple Watch" unter der Überschrift "Nachrichten aufs Handgelenk" die Entwicklung passender "Plattformen" an:

"Alle Nachrichten werden mit Bildern und in Kurzform bzw. Teasern aufbereitet, so dass Nutzer sie auch auf dem Uhrendisplay einfach und bequem lesen können. Wer mehr Informationen haben möchte, gelangt über eine Merkliste oder über die 'Hand off-Funktion' zum vollständigen Artikel in der jeweiligen iPhone-App."

Wird die neue Plattform am Handgelenk erneut alles ändern? Werden Metropolen-Hipster, die ihr sog. Smartphone nur kurz in die Hosentasche stecken, wenn sie aus der U-Bahn steigen, um, wenn sie dann die Treppen der Station hinaufsteigen oder hinabhoppeln, gleich wieder drauf nachzuschauen, was sich seitdem alles ereignet hat, künftig auch Kolumnen, die locker mal 10.000 Zeichen umfassen können, auf ihren Uhren lesen? Bleibt alles spannend.

[+++] Verschlankt werden muss in Unternehmen, die täglich Gedrucktes verkaufen wollen, ohnehin laufend.

Gleich zwei News über gefeuertes Verlags-Führungspersonal gibt es im typischen Bülend-Ürük-Sound, inzwischen ja vor allem bei kress.de. Es betrifft jeweils Geschäftsführer. Erstens den "langjährigen", stets selbstbewusst aufgetretenen der Lübecker Nachrichten, zweitens gleich zwei aus der frisch beratenen Südwestdeutschen Medienholding, darunter Detlef Haaks vom bekannten Süddeutschen Verlag. Die Gründe-Gemengelage scheint relativ deckungsgleich mit derjenigen zu sein, aus der gerade (auch Altpapier gestern) der Chefredakteur eines Berliner Boulevardblattes gegangen wurde: unterschiedliche Ansichten über das Ausmaß, in dem verschlankt bzw. gespart werden soll. Dass Haaks vor seinem SZ-Engagement "Geschäftsführer beim Deutschen Sparkassenverlag" war, hat ihm offenbar so wenig geholfen wie dem Lübecker Thomas Ehlers sein Posten im Aufsichtsrat der örtlichen Sparkasse.

Das Typische an Ürüks Artikeln besteht, neben der häufigen Gutinformiertheit und der Gelegenheit, Querverbindungen zu ziehen, darin, dass einerseits betriebswirtschaftliche Leistungen gerne im betriebswirtschaftlichen Tonfall gerühmt werden ("strammes, aber auch ein erfolgreiches Regiment", "auf Effizienz" setzen), andererseits aber Raum für klar feuilletonistische Schlenker bleibt. Zum Beispiel, wüssten Sie spontan, was eine bekannte deutsche Volkspartei und die Autorin der "Graf-Stanislaw-Saga" gemeinsam haben?

Im Lübeck-Artikel erfährt man's. Bzw. wenn man weiß, wie die Autorin von "Hymne an die Nacht" und den weiteren "Stanislaw"-Romanen, heißt, kann man es schon erahnen: Sylvia Madsack gehören genauso wie der SPD Anteile an der Verlagsgruppe Madsack, die nun womöglich auch in Lübeck die Inhalte ihres "Redaktions Netzwerks Deutschland" loswerden möchte, weshalb dort der Bedarf an eigenen Inhalten natürlich sinken dürfte.

[+++] Ein wichtiger Aspekt der prekären Onlinejournalismus-Finanzierung steht gerade in Köln vor Gericht, wie etwa die Süddeutsche auf ihrer Medienseite und horizont.net berichten. Es geht um die Eyeo GmbH bzw. deren Software oder Add-on namens Adblock Plus.

"Viele Webseiten sind auf Werbeeinnahmen angewiesen, doch viele Nutzer wollen beim Surfen im Internet keine Werbung sehen", lautet hier das Dilemma. Lesen Sie dazu unbedingt den Artikel "Warum ich mir lieber einen Arm abhacken würde, als einen Adblocker zu benutzen" bei lousypennies.de:

"Ja, Banner-Werbung im Netz ist nicht immer schön. Aber als Journalist – und nicht als Normalleser, der es nicht besser weiß – Adblocker zu benutzen, ist in meinen Augen eine Versündigung gegen die eigene Branche. Und einfach blöd, rücksichtslos, kurzsichtig und gemein."

Obwohl der erste Gerichtstermin in Köln "nur wenige Minuten" dauerte, könnte sich bereits die Tendenz abgezeichnet haben, dass die Richter "zwar das Blacklisting, also die Unterdrückung der Werbung, nicht beanstandet. Wohl aber das Whitelisting", durch das wohlhabende Konzerne, vor allem kalifornische, ihre eigene Werbung vom Blocken mehr oder minder freikaufen können (vgl horizont.net). Das Verfahren dürfte in weitere Instanzen gehen, außerdem stehen ähnliche Verfahren durch weitere Kläger bevor. Aktuell klagt der schon erwähnte Springer-Konzern.

[+++] Dass es in einer Überschrift der FAZ-Medienseite um deutsche Journalisten in ihrer Funktion als Journalisten geht, geschieht nicht oft. Aber heute: "Journalist in Dortmund bedroht und angegriffen" steht dort, unten klein, doch immerhin. Da handelt es sich um die Kurzfassung der EPD-Meldung, die hier nebenan ausführlicher zu lesen ist. Physisch angegriffen wurde der freie Journalist Marcus Arndt, gegen den u.a. sich auch bereits die psychischen Attacken mit gefälschten Todesanzeigen (siehe u.a. dieses Altpapier bzw. daraus publikative.org) gerichtet hatten.

Weitere Berichte stehen bei ruhrbarone.de und bei wdr.de, wo die Überlegung Dortmunder Journalisten, "künftig ... gemeinsam zu Kundgebungen von Neonazis" zu fahren und "eher ein Taxi anstatt die U-Bahn" zu benutzen, zur Sprache kommt. Bleibt die Frage, warum das Portal, für das Arndt aktiv ist, jeweils nicht verlinkt wird. Den Link zu diesem metronews24.org ("Journalisten und Beobachter schreiben hier über die rechtsextreme Szene") gibt's in der evangelisch.de-Meldung bzw. direkt hier.


Altpapierkorb

+++ Noch mal Dortmund, noch mal freier Journalist, wobei das Problem nun eher in Dresden liegen könnte: Die TAZ berichtet von einem ihr merkwürdig erscheinenden "Kuhhandel zwischen Dynamo Dresden und dem ZDF": "Ihr entfernt den unliebsamen Bericht, dafür lassen wir euren Mitarbeiter ins Stadion", und das, "ohne den Autor direkt in die Diskussion einzubeziehen". Ullrich Kroemers Artikel über Dresdener Fanprobleme wurde womöglich auf Vereins-Intervention von zdfsport.de entfernt. Kroemer war dann aber beim Spiel gegen Dortmund im Stadion und "hat den Artikel mittlerweile auf seinem privaten Blog veröffentlicht." Bleibt schon wieder die Frage, warum die TAZ diesen Blog nicht nennt, der überdies schwer zu finden ist (vielleicht, weil es ihn gar nicht gibt; bei torial.com hat Kroemer den fraglichen Text wohl jedenfalls veröffentlicht). +++

+++ Was macht Tilo Jung? Er äußert sich, wie ihm der Schnabel gewachsen ist, was gesprochen eleganter aussähe als bei Facebook geschrieben ("Manche Bilder wirken länger, als man im Moment glaubt", "Ich habe wie alle Menschen mehr als einen 'blinden Fleck'"). Da krautreporter.de sich nicht nur zu diesem seinem Aushängeschild geäußert hat, sondern dann auch noch einmal in anderer eigener Sache, eines Transparenzproblems wegen, äußern sich auch Tagesspiegel und faz.net über die Krautreporter. Und meedia.de sowieso ("Jimmel, Jammel, Jummel", "Weg des Wischiwaschi").+++

+++ Qualitätsfeuilletons über neue Internetdienste I: SZ über die App namens Meerkat ("Meerkat verzichtet auf eine Instanz zwischen Sender und Zuschauer. Echtzeit ist Echtzeit, live und direkt. Klar, irgendwo steht ein Server, der das Videobild und den Ton vom Sender zu den Empfängern überträgt. Aber eine Plattform, auf der Menschen oder Algorithmen beeinflussen, was gesendet und empfangen wird, das gibt es bei Meerkat nicht. Was Sortierung und Gewichtung der Links betrifft, verlässt sich die App auf die Schwarmintelligenz der Twitter-Nutzer, die die Links als Tweets verbreiten ..." +++

+++ Qualitätsfeuilletons über neue Internetdienste II: "Brüllt los, Ihr seid im Mekka des Meckerns!" (FAZ-Medienseite über die Webseite de.reclabox.com). +++

+++ Außerdem beobachtete die SZ den Neu-Politiker (siehe Altpapier) Roger Köppel. Unter der Überschrift "Der Papier-Politiker" schreibt Charlotte Theile: "Der frühere Chefredakteur der Welt ist für die Bauernpartei SVP auch ein Experiment: Sind Intellektuelle in der Partei tatsächlich gefragt? Will man sich ihre Vorträge anhören? Und: Lässt sich ein Quereinsteiger, der altgediente Parteileute auf der Liste nach hinten rücken lässt, vermitteln?" +++

+++ "Als Roy Hattersley, damals stellvertretender Labour-Parteiführer, seine Teilnahme an der satirischen Nachrichtensendung 'Have I Got News for You' zum dritten Mal kurzfristig absagte, wurde er auf dem Panel ersetzt - durch eine Packung Schweineschmalz. Diese besitze einige der Eigenschaften des Labour-Politikers und werde wahrscheinlich eine ähnliche Vorstellung geben, sagte der Moderator": Solche Geschichten stehen oft auf der FAZ-Medienseite. Aktuell wollen die britischen Sender Premierminister David Cameron, der sich einem TV-Duell verweigert, aber lediglich "durch einen leeren Stuhl" ersetzen, berichtet Gina Thomas. +++

+++ Domian-Stoff: "Im Prinzip hat Domian anfangs jene Rolle übernommen, die einst der Dr. Sommer in der Bravo ausfüllte. Lange vor der digitalen Inflation im Internet hat er so ein Forum geschaffen für Fragen, die man sonst nirgendwo loswurde. Die Frage 'Bin ich Domian?', gilt inzwischen als stehende Redewendung, wenn sich jemand mit dem Problem eines anderen überfordert sieht" (Hans Hoff, SZ). +++ "Kult-Kummerkasten" (bild.de). +++ "Ausführlicher Nachruf auf taz.de" (Druck-TAZ knapp, ausführlich hier) +++ "Offenbar will er" nun "mit dem Comedian Atze Schröder einen TV-Talk machen. Das wäre ein Kulturbruch. Mal sehen, was ob seine Fans das zulassen" (Tagesspiegel). +++ Und ein krautreporter.de-Interview. +++

+++ Echte Nachrufe mussten auf Sam Simon, einen der "Simpsons"-Macher, geschrieben werden. "Nach der vierten Staffel verließ Simon die Serienproduktion im Streit mit Groening. Vielleicht weil es die Angst des Senders war, dass Simon bei der Konkurrenz anheuern könnte - egal, Simon verließ die Produktion mit einem sagenhaften Vertrag: Obwohl er seit 1993 nicht mehr für 'Die Simpsons' arbeitete, wurde er stets als Produzent genannt und dafür jährlich mit zehn Millionen Dollar abgefunden" (Tagesspiegel) +++

+++ Sowie auf den vor anderthalb Wochen verstorbenen Kurt Imhof, für den "die Frage nach der Rolle des kritischen Intellektuellen eine existenzielle Dimension hatte. Denn zwei Seelen schlummerten stets in seiner Brust, die eine Seele war die des auf Reputation bedachten kritischen Sozialtheoretikers und empirischen Sozialforschers, der sich freilich nicht damit zufriedengeben wollte, Fliegenbeine zu zählen; die andere Seele war die des unerschrockenen Intellektuellen, der sich zu krisenhaften Situationen des Zeitgeschehens engagiert verhält und vor dem Gestus des 'J'accuse' nicht zurückschreckt" (Stefan Müller-Doohm in der NZZ). +++

+++ "China hat eine neue Heldin. Die Zensur hat ihren Film zwar mittlerweile verboten, aber das Bild der zierlichen Frau in Jeans und weißem Hemd, die mit sanfter Stimme in einfacher Sprache Ungeheuerliches über die Luftverschmutzung erzählt, hat sich eingeprägt. Mindestens ein Viertel der Bevölkerung hat Chai Jings unabhängig produzierte Dokumentation über den Smog in China schon gesehen" (FAZ-S. 8 über die am Montag hier erwähnte Filmemacherin). +++

+++ "Soviel Kapitalismuskritik von Seiten der CDU war selten ..." (netzpolitik.org, aber nicht ohne diverse "aber", über  Medien-Staatsministerin Monika Grütters' "Kulturpolitische Forderungen für das Urheberrecht im digitalen Umfeld". +++

+++ Und der erste "Tatort" des neuen Berliner Kommissarsgespanns hatte Premiere! (Tsp., Gesellschaftsreportage der Berliner Zeitung). +++

Neues Altpapier gibt's wieder am Donnerstag.

weitere Blogs

Ein mysteriöser Todesfall, das Mauern der Einheimischen und eine latente Homophobie begegnen einer lesbischen Pastorin bei ihrer Ankunft in einer ostdeutschen Kleinstadt. Aus der Großstadt bringt sie zudem ihre persönlichen Konflikte mit. Beste Zutaten für den Debütroman „In Hinterräumen“ von Katharina Scholz.
Nach 15.000 Kilometern und fünf Monaten ist Leonies Reise vorbei. Was bleibt? In ihrem letzten Blogbeitrag schaut sie auf ihre Erfahrungen zurück.

Vom Versuch nicht zu hassen. Biografische Streiflichter von gestern, das irgendwie auch heute ist.