Normalerweise werde ich von Konfirmandinnen nicht umarmt. Und von Konfirmanden erst recht nicht. Aber was ist schon normal? An diesem Morgen ist alles anders als gewohnt. Ich stehe mitten auf einem der langen, von Licht durchfluteten Flure und habe gleich eine ganze Horde von Konfis an der Backe. Genauer gesagt: am Oberschenkel. Und es sieht so aus, als würden sie gar nicht daran denken, ihn jemals wieder loszulassen. In was bin ich da nur reingeraten?
Los ging es vor rund vier Wochen. Mein Telefon klingelt und Barbara (Name geändert!) ist in der Leitung. Ob ich mir vorstellen könne, sechs ihrer Kinder zu konfirmieren, fragt sie. Barbara ist Lehrerin an einer Förderschule mit dem Schwerpunkt "Geistige Entwicklung". Die Schule liegt im Nachbarort, rund zwölf Kilometer von meinem Wohnort entfernt.
"O Gott, auch das noch", denke ich. Als wenn ich als Gemeindepfarrer mitten in der westfälischen Diaspora nicht schon genug Arbeit hätte. "Was sagt denn der zuständige Kollege vor Ort?" frage ich vorsichtig. "Der will nicht", antwortet Barbara und lässt nicht locker: "Außerdem soll doch die Konfirmation von Thomas so schön gewesen sein!"
Was man früher "geistig behindert" nannte
Ach ja, Thomas. Den hab' ich vor einem Jahr in meiner eigenen Gemeinde konfirmiert. Thomas ist das, was man früher "geistig behindert" nannte. Es war gar nicht so leicht, ihn zusammen mit den anderen auf die Konfirmation vorzubereiten. Integrative Konfirmandenarbeit ist nicht gerade das, was man als angehender Pastor im Vikariat lernt, also im praktischen Teil der Ausbildung.
Aber integrativ ist in diesem Fall nicht gefragt. Der Konfirmandenunterricht soll an der Schule stattfinden. Und die Konfirmation auch. Ein spannendes Setting. Eine neue Herausforderung. Ich sage "Ja". Zwei Wochen später lerne ich Barbara persönlich kennen. Und die Schule, in der sie arbeitet, auch. Wir haben uns verabredet, um gemeinsam den Unterricht zu planen.
Auch als Katholikin steht sie voll dahinter
Barbara ist Religionslehrerin. Das macht die Sache angenehm einfach. Denn Barbara ist bestens vorbereitet. Sie hat sich schon ein Thema ausgedacht, das sich wie ein roter Faden durch die Konfizeit zieht. Sie weiß, wie wichtig es für die Kinder ist, mit allen Sinnen zu lernen. Und sie steht, obwohl selbst katholisch, voll hinter der Konfirmation und dem Konzept, diesen Feiertag ganz eng mit der Schule zu verknüpfen.
Gerade haben wir die Themen der einzelnen Unterrichtsblöcke festgelegt, schon führt sie mich durch die Schule. Voller Stolz zeigt sie mir die Klassenzimmer, die Therapieräume und natürlich die große Multifunktionsaula, in der sich locker 20, 30 Kinder auf dem Air-Tramp austoben. Hier soll in einem halben Jahr der Konfirmationsgottesdienst stattfinden. Ich bin gespannt.
Als wären wir die dicksten Freunde
Und dann, kurz bevor ich meinen Heimweg antrete, stellt sie mir noch die sechs Kinder vor. Wir haben uns nie zuvor gesehen. Trotzdem kommen sie auf mich zugerannt, als wären wir seit Jahren die dicksten Freunde. Herzlich nehmen sie mich in den Arm, noch bevor ich meinen Namen gesagt habe, und führen mich in den Raum, den wir in den kommenden Wochen für den Konfirmandenunterricht nutzen dürfen.
Zwei Wochen später ist es soweit: der erste Unterrichtsblock steht an. Nach dem Gottesdienst mit der Grundschule aus meinem Ortsteil mache ich mich auf den Weg. Mehr Fragen im Kopf als Antworten. Wie die Kinder wohl im Unterricht drauf sind? Ob sie alles verstehen, was wir mit ihnen erarbeiten möchten? Ob es ihnen Spaß macht? Ob das Thema zündet?
Ich bin ein bisschen spät dran, springe aus dem Auto und stehe erstmal vor verschlossenen Türen. Upps, Hochsicherheitstrakt. Und eine Klingel ist nicht in Sicht. Die finde ich erst eine Woche später. Also mache ich mich lautstark an der Fensterscheibe bemerkbar. Bis mir schließlich ein freundlicher Mann in schwarzer Jeans, Fellweste und Ohrringen öffnet. Wird wohl der Hausmeister sein. Ist er aber nicht, denn er stellt sich als Schulleiter vor. Cooler Typ, denke ich. So kanns weiter gehen.
Der Typ mit der Fellweste ist der Schulleiter
Oben auf dem Flur stehen die neuen Konfis schon in Lauerstellung. Kaum öffne ich die Tür, fallen sie über mich her. Sie begrüßen mich herzlich, umarmen mich, begleiten mich zum Konfiraum am Ende des Gangs. Da wartet Barbara, die just dabei ist, ihre Gitarre in Stimmung zu bringen. Jeder stellt sich mit Namen vor. Und dann singen wir das schwungvolle Konfilied: "Hey, wir sind die Konfis, ja wir sind einmalig. Einfach genial und phänomenal!" Da geht die Post ab. Die Konfis springen von ihren Stühlen, gehen richtig mit. Kein Wunder, dass dieser Song in den kommenden Wochen unser treuer Wegbegleiter ist.
Damit das mit dem Singen besser klappt, bekommt jedes Kind ein Musikinstrument in die Hand gedrückt: eine Cajon, diverse Trommeln und lateinamerikanische Rhythmusinstrumente. Schon nach zwei "Proben" steht unsere kleine Konfiband, die den Konfirmationsgottesdienst musikalisch begleiten wird.
Apropos "in die Hand gedrückt": In jeder Stunde gibt es für die Hände was zu tun. Schließlich ist "Hände" das Thema des Konfikurses. Wir gestalten eine Altardecke mit unseren Handabdrücken in den leuchtend bunten Farben. Wir basteln eine Konfikerze mit Händen aus Wachs darauf. Und wir backen Kekse in Handform für den Gottesdienst.
In jeder Stunde erzählen wir eine Geschichte aus der Bibel, die etwas mit unserem Thema zu tun hat. Wir lernen die Abendmahlsgeräte kennen und nehmen sie in die Hand. Wir trinken Traubensaft und probieren eine Oblate. Und wir falten unsere Hände, um gemeinsam zu beten.
"Denn ich hab dich lieb!"
Das alles klingt so einfach und ist doch unendlich schwer. Es geht um nichts weniger, als komplizierte theologische Zusammenhänge mit einfachen Worten zu formulieren, ohne dass es platt wird. Zum Beispiel die Einsetzungsworte, die Jesus seinen Jüngern beim Abendmahl gesagt hat. Aus "Mein Leib für dich gegeben" wird so ein "Jesus sagt: Ich gebe mein Leben für dich. Denn ich hab dich lieb!"
Ein Satz, den die sechs Kinder im Konfirmationsgottesdienst wieder hören. Der findet tatsächlich in der Aula der Schule und bewusst nicht in einer Kirche statt. Zugegeben: Mir ist anfangs nicht ganz wohl bei der Entscheidung. Aber die Argumente sprechen für sich: die Kinder werden in ihrer vertrauten Umgebung konfirmiert und nicht in einer Kirche, zu der sie keinen Bezug haben. Und, mindestens genau so wichtig: in der Schule können die Mitschülerinnen und Mitschüler mitfeiern.
Ein Samttuch vor dem Fenster
Genau so wird's gemacht. Auf der Bühne wird ein Altar aufgebaut und liebevoll mit Kerzen, einer Bibel und Blumen geschmückt. Die große Fensterfläche wird mit einem großformatigen schwarzen Samttuch abgehängt, damit niemand durch das Geschehen jenseits der Fenster abgelenkt wird. Und an die 400 Stühle werden aufgestellt.
Spätestens beim Läuten der Glocken, die von CD eingespielt werden, ist klar, dass hier mit der Konfirmation ein Riesen-Schulfest gefeiert wird. Schon Tage vorher sind die Konfis aufgeregt über die Flure gelaufen und haben es jedem erzählt, der ihnen über den Weg lief: "Ich werde am Freitag konfirmiert." Am Ende unserer letzten Gruppenstunde werde ich von den Schülerinnen und Schülern durch alle Klassenräume geschleift. "Guckt mal, das ist unser Pastor. Der macht die Konfirmation", ist da zu hören.
Im Gottesdienst singen wir zusammen mit den Konfis die Lieder, die wir in den vergangenen Wochen gesungen haben. Wir hören die Geschichte von Jesus, der die Kinder zu sich kommen ließ, um sie herzlich in die Arme zu nehmen und ihnen die Hände zum Segen aufzulegen. Und wir feiern zusammen mit den Konfis und deren Familien das Abendmahl im Halbkreis vor der Bühne. Dazu verteilen Mitschüler die selbst gebackenen Hand-Kekse in den Reihen, damit alle was zum Essen haben.
So manche Träne wird verdrückt
Genau so wie bei jeder Konfirmation in der Kirche hören wir uns die Konfirmationssprüche an, die die Eltern für ihre Kinder ausgesucht haben. Und gemeinsam legen Barbara und ich den Konfis die Hände auf und sprechen ihnen Gottes Segen zu. Ja, so manche Träne wird an diesem Vormittag verdrückt, auch und gerade bei den Eltern. Doch genau so oft huscht an diesem Tag ein Lächeln über die Gesichter der Anwesenden.
Und am Ende sind sie alle glücklich. Die Konfis sind happy, weil sie spüren: Heute ist mein Tag. Ein Tag, an dem ich im Mittelpunkt stehe. Und alle Mitschüler sind dabei! Die Eltern sind überglücklich, weil ihre Kinder in einem würdevollen Rahmen konfirmiert wurden. Barbara ist glücklich, weil sie sicher ist, dass sich alle Vorbereitungen und Mühen gelohnt haben. Und ich als Pastor bin glücklich, weil mir durch diesen Konfikurs gleich mehrere Lichter aufgegangen sind.
Ich habe gelernt, die Dinge einfach zu sagen und auf den Punkt zu bringen. Und ich habe erfahren, dass Gott uns Menschen bedingungslos liebt. Das jedenfalls haben mich die Konfis von Anfang an spüren lassen. Und das tut so gut, dass ich die Schule auch ohne verschlossene Eingangstür am Liebsten gar nicht mehr verlassen hätte.
Bernd Tiggemann ist evangelischer Pfarrer und Online-Redakteur der Evangelischen Kirche von Westfalen.