Filmkritik der Woche: "Precious - Das Leben ist kostbar"

Filmkritik der Woche: "Precious - Das Leben ist kostbar"
Ihr heruntergekommenes Zuhause in Harlem ist die Hölle auf Erden. Mit diabolischer Boshaftigkeit schikaniert Mary Jones ihre Tochter Claireece, genannt Precious. Die 16-Jährige muss alle Arbeiten im Haushalt verrichten und Geld vom Sozialamt beschaffen, während die verwahrloste Mutter in der düsteren Wohnstube keifend und kettenrauchend vor dem Fernseher hockt. In dem oscargekrönten Film "Precious - Das Leben ist kostbar" erzählt Regisseur Lee Daniels nicht nur ein Sozialdrama, er entfaltet ein Schreckenszenario.
24.03.2010
Von Ralph Umard

Unter dem Terrorregime der Mutter bleibt für die Schulbildung wenig Zeit, Precious ist Analphabetin. Seit frühester Kindheit regelmäßig von ihrem Vater vergewaltigt, ist Precious bereits mit dem zweiten Kind schwanger von ihm, das erste bekam sie mit zwölf. Bevor der Vater die Familie verließ, steckte er seine Tochter mit dem HIV-Virus an.

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Die Vorlage für diese Horrorwelt lieferte der Bestseller "Push" (1996) von Sapphire. Die Autorin lässt Precious darin selber ihre Geschichte erzählen, in der ihr eigenen restringierten Ausdrucksweise: "Mama steht das Maul offen, wie beim bösen Wolf. Stinkt schlimmer als auf dem Klo." Mit obszöner Sprache und pornografischer Direktheit wird der sexuelle Missbrauch durch den Vater geschildert. Die Buchautorin rührt an Tabus, wenn sie deutlich macht, dass das Kind den Geschlechtsverkehr nicht nur quälend, sondern gleichzeitig lustvoll empfindet.

Vom Vater misshandelt

Sapphire, die mit bürgerlichem Namen Ramona Lofton heißt und 1950 in Kalifornien geboren wurde, weiß, wovon sie schreibt. Ihre Mutter verfiel dem Alkohol, der Vater hat sie misshandelt, ihr obdachloser Bruder wird umgebracht. Als Sapphire 1977 mittellos nach New York zieht, schlägt sie sich zunächst als Stripperin und Prostituierte durch.

Später arbeitet sie selbst als Lehrerin für analphabetische Kinder. An eine ihrer damaligen Schülerinnen ist ihre Hauptfigur Precious angelehnt. Ihrem tristen Dasein entflieht Precious nur kurzzeitig in die im Film visuell effektvoll inszenierten Fantasievorstellungen, in denen sich die Teenagerin als Fashionmodel oder Discoqueen imaginiert.

Nie lächerlich gemacht

Trotz ihrer extremen Fettleibigkeit wird die Hauptfigur nie lächerlich gemacht, der Debüt-Schauspielerin Gabourey Sidibe gelingt es, ihre Rolle mit menschlicher Würde auszustatten und Empathie beim Zuschauer zu evozieren. Die erfahrene Film-TV- und Bühnenentertainerin Mo'Nique bietet in der Rolle der Mutter eine erschütternde Vorstellung als Furie in Menschengestalt. Während ihres Monologs bei einer Sozialarbeiterin - verblüffend bodenständig und verhalten verkörpert von Popstar Mariah Carey - bringt sie emotional anrührend und eindringlich menschliche Abgründe zum Ausdruck - eine schauspielerische Meisterleistung. Charakterlich differenziert ist auch die Darstellung der Nebenrollen von Precious? Mitschülerinnen.

Trotz ihrer Handicaps, ihrer Traumata, ihrer scheinbar aussichtslosen Lage resigniert Precious nicht, sie kämpft tapfer um ihre Identität, gegen die Zerstörung ihrer Persönlichkeit. Sie kann sich behaupten, gewinnt Selbsterkenntnis sowie Achtung vor sich und von anderen. Sie lernt lesen und schreiben unter einfühlsamer, aber energischer Anleitung einer Hilfsschullehrerin. Am Ende gelingt es Precious, ihr Leben selbst in die Hand zunehmen - ein Vorbild für andere unterprivilegierte Jugendliche.

"Precious" ist Film des Monats April der Jury der Evangelischen Filmarbeit.

USA 2009. Regie: Lee Daniels. Buch: Geoffrey Fletcher (nach dem Roman "Push" von Sapphire) Mit: Gabourey Sidibe, Mo'Nique, Paula Patton, Mariah Carey, Lenny Cravitz, Sherri Shepherd, Chyna Layne. 109 Minuten. FSK: ab 12 ff.

epd