Medien und Amokläufe: Die Gefahr der Nachahmung

Medien und Amokläufe: Die Gefahr der Nachahmung
Medien könnten mit ihrer Berichterstattung über Amokläufe Nachahmer animieren, warnt Medienwissenschaftler Hans Mathias Kepplinger. Er fordert: "Sachlich berichten!"
09.03.2010
Von Henrik Schmitz

evangelisch.de: Herr Kepplinger, Sie behaupten, die Medienberichterstattung über Amokläufe führt zu einer verzerrten Wahrnehmung beim Publikum. Was meinen Sie damit?

Kepplinger: Die meisten Menschen tendieren dazu, besonders gravierende Vorgänge zu verallgemeinern. Sie sehen nicht den Einzelfall an sich sondern diesen als Beispiel eines allgemeinen Problems. Deshalb überschätzen Menschen die Gefahren, die von solchen Fällen ausgehen. Opfer eines Amoklaufes zu werden ist eigentlich sehr unwahrscheinlich. Selbst das Risiko, Opfer eines Mörders aus dem Verwandtenkreis zu werden, ist höher.

evangelisch.de: Es wird auch behauptet, Medienberichterstattung über Amokläufe provoziert Nachahmungstaten. Wie das?

Kepplinger: Dazu ist mir keine Studie bekannt, aber der Verdacht liegt nahe. Man spricht hier vom sogenannten Werther-Effekt. Der amerikanische Wissenschaftler David Phillips hat bereits in den 70er Jahren nachgewiesen, dass nach Medienberichten über besonders spektakuläre Selbstmorde in den USA die Selbstmordrate angestiegen ist. Hans-Bernd Brosius und Frank Esser haben für Deutschland festgestellt, dass nach der Berichterstattung über Übergriffe auf Ausländer in Rostock 1990 die Anzahl der Straftaten gegen Ausländer deutlich zugenommen hat, wobei der Effekt vor allem von der Fernsehberichterstattung ausging. Aufschlußreich ist auch eine Studie Gabriel Weimanns von der Universität Haifa. Er hat gezeigt, dass es nach Terroranschlägen häufig Nachahmungsanschläge gibt. In allen Fällen sind jedoch die Nachahmungstaten in der Regel nicht so gravierend sind wie die Ausgangstat.

evangelisch.de: Was verursacht denn diese Nachahmungstaten?

Kepplinger: Es gibt zahlreiche Menschen, die zur Gewalt gegen sich und andere bereit sind. Einer von mehreren Gründen, ihre Tat auszuführen, ist für diese Personen, dass sie sich selbst und ihr Schicksal der Öffentlichkeit präsentieren wollen. Nach einem von den Medien stark beachteten Vorfall sehen die potentiellen Täter die Möglichkeit im Fahrwasser des Geschehens selbst in die Medien und damit in die Öffentlichkeit zu kommen.

evangelisch.de: Wie können Journalisten diesem Dilemma entkommen? Wäre eine Nichtberichterstattung eine Alternative?

Kepplinger: Nein, es kann nicht Sache der Medien sein, etwas zu verschweigen. Aber gleichzeitig kann es auch nicht Sache der Medien sein, einem Ereignis mehr Bedeutung zuzusprechen als ihm nüchtern betrachtet sachlich zukommt.

evangelisch.de: Wie sähe denn eine verantwortungsvolle Berichterstattung beispielsweise über einen Amoklauf aus?

Kepplinger: Die Medien sollten sich darauf konzentrieren, die wichtigen Fakten darzustellen und Spekulationen oder detailreiche Veranschaulichungen vermeiden. Besonders zurückhaltend sollten Medien mit Bildern umgehen, da diese stark emotionalisieren und stärker und länger im Gedächtnis bleiben als jedes gesagte oder geschriebene Wort. Medien sollten zudem den Täter nicht in einer herausgehobenen Rolle präsentieren, auch dann nicht, wenn der Täter kritisch oder negativ dargestellt wird. Nachfolgetäter sehen die Täter nämlich ohnehin nicht negativ, sie identifizieren ihn vielmehr als Vorbild.

evangelisch.de: Man kann doch aber nicht positiv über einen Amokläufer berichten…

Kepplinger: Nein, aber man sollte neutral berichten, weil Kritik zum Bumerang werden kann. Stellen sie sich einen 18-Jährigen vor, der zum Kreis potentieller Täter gehört. Das ist in der Regel ein Mensch, der mit der Gesellschaft und den Medien dieser Gesellschaft abgeschlossen hat. Wenn die Medien einen Täter sehr negativ präsentieren, bestätigt dies nur sein Weltbild. Es zeigt ihm erneut, was er denkt, nämlich dass die Welt verworfen und korrupt ist und dass man sie nur verlassen kann, indem man sich an ihr rächt. Aus Sicht eines solchen Außenseiters ist die massive Kritik am Täter letztlich eine Rechtfertigung seiner Nachfolgetat.


Hans-Mathias Kepplinger (geb. 1943) ist Professor für Empirische Kommunikationsforschung an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.

Henrik Schmitz ist Redakteur bei evangelisch.de und betreut die Ressorts Medien und Kultur.