Thema Missbrauch in den Medien: Verzerrte Darstellung?

Thema Missbrauch in den Medien: Verzerrte Darstellung?
Medien stellen die Wirklichkeit verzerrt dar. Auch beim Thema Missbrauch und Kirche, sagt der Kriminologe Hans-Ludwig Kröber. Evangelisch.de ist dem Vorwurf nachgegangen.
26.02.2010
Von Henrik Schmitz

Das Thema Missbrauch in der katholischen Kirche drängte in den vergangenen Wochen – wieder einmal! – in die Schlagzeilen. Ausgelöst durch die Offenlegung von Missbrauchsfällen am Berliner Canisius-Kolleg sieht sich die katholische Kirche mit einer Debatte über Vertuschung konfrontiert. Was aber noch stärker am Image der Kirche und ihrer Würdenträger kratzt, ist der Eindruck, bei pädophilen Priestern handele es sich nicht mehr um einzelne schwarze Schafe, sondern ganze schwarze Herden.

Zu Unrecht, findet der Kriminologe Hans-Ludwig Kröber, der an der Berliner Charité über Pädophilie forscht und auch einer Expertenkommission des Vatikans zu diesem Thema angehörte. "Normale Personen" begingen nach der Kriminalstatistik häufiger sexuelle Missbrauchsdelikte als Priester und kirchliche Mitarbeiter, sagte Kröber. Er hat offizielle Statistiken ausgewertet und diese mit den Angaben des "Spiegels" verglichen, wonach es seit 1995 94 Verdachtsfälle sexuellen Missbrauchs durch Priester, Ordensleute oder kirchliche Mitarbeiter gegeben haben soll. Daher könne auch der Zölibat "wohl nicht als wesentliche Quelle des Kindesmissbrauchs angesehen werden".

Bruchteil des Problems?

Geschieht den Priestern und dem Zölibat also Unrecht, wenn behauptet wird, gerade der Zwang zur sexuellen Enthaltsamkeit bzw. die zwangsweise Entsexualisierung der Priester bereite den Boden für sexuellen Missbrauch oder sexualisierte Gewalt an Minderjährigen? Und entsteht dieser falsche Eindruck womöglich nur dadurch, dass die Medien nun massenhaft über Missbrauchsfälle in der Kirche berichten und dabei übersehen, dass diese nur einen Bruchteil des eigentlichen Problems ausmachen?

Hans Mathias Kepplinger lehrt Kommunikationswissenschaften in Mainz. Zu seinen Spezialgebieten gehört die sogenannte Bias-Forschung. Einfach ausgedrückt geht er der Frage nach, wie Journalisten mit ihrer Berichterstattung die Wirklichkeit verzerren und damit ein falsches Bild von der Gesellschaft zeichnen.

Erhöhte Aufmerksamkeit

Dies geschieht Kepplinger zufolge ständig - und auch im Fall der Berichterstattung über sexuellen Missbrauch in den Reihen der Kirche. "Am Anfang der Berichterstattung steht in der Regel ein Schlüsselereignis, das aus Sicht der Journalisten und Leser besonders herausragend ist. In diesem Fall war dies die Enthüllung über die Vorfälle am Canisius-Colleg", sagt er. Die Folge sei dann, dass es eine erhöhte Aufmerksamkeit für diesen Typus des Ereignisses - aktuell das Thema Missbrauch - gebe. Dies verursache dann Verzerrungen in der Berichterstattung. "Journalisten fangen an, in den Archiven nach vergleichbaren Fällen zu suchen. Durch den Rückgriff auf diese Fälle entsteht der Eindruck einer ungewöhnlichen Häufung, die aber nicht der Wirklichkeit entspricht", sagt Kepplinger.

Die Medien surfen sozusagen auf einer selbstproduzierten Welle. Sie schaffen Aufmerksamkeit für ein Ereignis, anschließend berichten sie über weitere Fälle, die längst bekannt sind oder gehen sogar dazu über, über Fälle zu berichten, die nur indirekt mit dem Schlüsselereignis zu tun haben. Als Beispiel nennt Kepplinger die Berichterstattung über Industrieunfälle, die er untersucht hat. Nach einem Unfall bei der Höchst AG mit ortho-Nitroanisol 1993 sei über eine Reihe weiterer Störfälle berichtet worden, die keine eigentlichen Störfälle und de facto harmlos gewesen seien, sagt Kepplinger. In der Öffentlichkeit sei aber der Eindruck entstanden, bei Höchst gehe es "drunter und drüber" und das Unternehmen sei eine Gefahr für Mensch und Umwelt.

Moralisch ruiniert

Für ein Unternehmen, aber auch im aktuellen Fall die Kirche, sei eine solche Berichterstattung verheerend. "Alles gerät in den Strudel des Schlüsselereignisses, alles wird künstlich ähnlich gemacht und am Ende stehen die, über die berichtet wird, als moralisch ruiniert da."

Eine verzerrte Berichterstattung hat auch Konsequenzen für das Publikum. Journalisten berichteten stets über das Besondere und selten über das Normale. "Deshalb haben Menschen vor den falschen Dingen Angst. Sie fürchten eine Lebensmittelvergiftung, die extrem selten eine Todesursache ist. Megakiller wie Diabetes fürchten sie aber nicht. Sie haben Angst vor Mord, übersehen aber, dass in Deutschland vor allem Raubüberfälle extrem zugenommen haben, während Tötungsdelikte selten sind und zudem abgenommen haben. Und auch Kriminologe Kröber sagt: "Das Ärgerliche an der Debatte ist unter kriminologischem und Kinderschutz-Aspekt derjenige, dass die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf den Bereich gelenkt wird, aus dem den Kindern zumindest in Deutschland in Wahrheit am wenigsten Gefahr droht."

Falsche Schlussfolgerung?

Ist die katholische Kirche also Opfer der verzerrten Mediendarstellung? Ganz so definitiv lässt sich dies nicht sagen, es fehlen nämlich unbestreitbare statistische Untersuchungen darüber, ob Priester, die im Zölibat leben, häufiger zu Missbrauchstätern werden als andere Männer.

Statistikprofessor Thomas Augustin von der Universität München hat sich die Rechnung des Kriminologen Kröber einmal genauer angesehen. Mathematisch sei die Rechnung im Wesentlichen korrekt, sagt er. Was die Frage angeht, ob dieser Berechnungen schon die Schlussfolgerung zulassen, Priester und Kirchenmitarbeiter liefen nicht so leicht Gefahr, zu Missbrauchstätern zu werden, ist Augustin aber skeptischer.

Kröber hatte die Anzahl der Priester, kirchlichen Mitarbeiter und Ordensleute (600.000 in Deutschland) ins Verhältnis zu den Verdachtsfällen auf Missbrauch seit 1995 (laut "Spiegel" 94) gesetzt. Die Daten verglich Kröber dann mit den Missbrauchsfällen in Deutschland in diesem Zeitraum insgesamt (210.000) und der Zahl der männlichen Bevölkerung ab 20 Jahren (ca. 33 Millionen).

Hohe Dunkelziffer

Eine Datenbasis, die laut Augustin nicht genau zur Fragestellung passt. Zum einen sei denkbar, dass bei den 600.000 Kirchenmitarbeitern auch Frauen mitgezählt worden seien, womit bereits ein falscher Vergleichswert gewählt worden wäre. Ein anderes Problem sei, dass Kröber logischerweise nur die bekanntgewordenen Fälle habe vergleichen können. "Das reicht aber nur, wenn man davon ausgeht, dass die Dunkelziffer der Missbrauchsfälle durch Priester und Kirchenmitarbeiter genau der in der Normalbevölkerung entspricht", sagt Augustin. "Es gibt aber gerade viele Kritiker, die behaupten, dass die Dunkelziffer im kirchlichen Bereich höher ist."

Und noch einen Punkt sieht Augustin kritisch. Aus den Zahlen lasse sich keine zwingende Aussage darüber ableiten, ob das Zölibat an sich Missbrauch befördere oder im Gegenteil Missbrauch eher verhindere. Selbst wenn nachgewiesen werden könne, dass katholische Priester seltener zu Missbrauchstätern werden, könne das Zölibat immer noch ein Faktor sein, der Missbrauch wahrscheinlicher mache, sagt Augustin. "Stellen sie sich als Gedankenexperiment vor, ein Amt als Priester verringert die Wahrscheinlichkeit, Missbrauchstäter zu werden im Vergleich zur Normalbevölkerung um den Faktor zehn. Etwa weil Priester besonders hohe moralische Ansprüche an sich selbst stellen", erklärt Augustin. "Dann kann es aber immer noch sein, dass das Zölibat die Wahrscheinlichkeit, Missbrauchstäter zu werden, beispielsweise um den Faktor zwei erhöht."

Keine Aussage über das Zölibat

Wenn man die Gruppe der Priester, die im Zölibat leben, dann statistisch untersuchte, würde man in einem solchen Fall immer noch feststellen, dass diese seltener zu Missbrauchstätern werden, obwohl das Zölibat an sich eher das Gegenteil bewirke. "Um eine statistisch gesicherte Aussage über die tatsächliche Wirkung des Zölibats auf die Missbrauchshäufigkeit zu treffen, müsste man katholische Priester, die im Zölibat leben, mit solchen vergleichen, die das nicht tun – und dann eigentlich noch zusätzlich annehmen, dass die Entscheidung für oder gegen den Zölibat zufällig und nicht in Abhängigkeit einer bereits vorhandenen Neigung getroffen worden ist.

So ganz überzeugend oder eindeutig ist die Verteidigung der katholischen Kirche durch den Kriminologen Kröber also nicht. Zumal es in der aktuellen Debatte im Kern nicht nur um den Missbrauch innerhalb der Kirche, sondern auch um die Frage geht, ob die Kirche Verdachtsfälle jahrelang vertuscht hat. Eine Untersuchung, ob die berühmte Dunkelziffer bei Missbrauch, wie die Kritiker behaupten tatsächlich höher ist als in der Normalbevölkerung, wäre im wahrsten Sinne des Wortes erhellend.


Henrik Schmitz ist Redakteur bei evangelisch.de und betreut die Ressorts Medien und Kultur.