"Am Anfang funktioniert man noch"

"Am Anfang funktioniert man noch"
"Wegen eines Personenschadens verzögert sich ­unsere Weiterfahrt. Wir bitten um Ihr Verständnis." Die Durchsage hat jeder, der regelmäßig Bahn fährt, schon mal gehört. Und man ahnt, dass die Menschen draußen am Gleis jetzt Schlimmes ­erleben. Ein Lokführer, ein Feuerwehrmann, ein Rettungssanitäter, ein ­Polizist und eine Notfallseel­sorgerin ­erzählen von Einsätzen, die sie nie vergessen werden.
11.11.2009
Von Hanna Lucassen

Carlo Kuster, 44, Lokführer bei der S-Bahn, Mitglied im Betriebsrat der S-Bahn Rhein-Main, Mainz

"An dem Tag ist ja nicht nur das passiert. Ich hatte am Vormittag noch frei, war zu Hause und habe miterlebt, wie ein Mann in den Tod gesprungen ist - direkt vor unserer Wohnung. Fast schon kurios: am Nachmittag zum Spätdienst und abends dann der Unfall. Ich habe es erst gar nicht bemerkt, es war schon dunkel. Die Strecke geht an kleinen Lauben und Gärten vorbei. Man fährt da ziemlich schnell, so 120 km/h. An einer Stelle war Polizei vor Ort, ich dachte, die haben Einbrecher gesucht, das kommt hier öfter vor. Ich bin dann weitergefahren, und plötzlich merkte ich an meiner S-Bahn ein Poltern, so eine Art Bumbum. Ich dachte immer noch, es wäre einer geflüchtet und hätte etwas auf die Gleise geschmissen. Doch dann telefonierte ich mit dem Betriebsleiter, und der sagte: Du sollst unbedingt anhalten, es geht um Suizid. Ich bin dann in den nächsten Bahnhof eingefahren und habe nachgeguckt. Die Gleisräumer waren verbogen, und ich sah auch Reste von der Kleidung. Da war mir klar, dass ich jemanden überfahren hatte.


Zuerst funktioniert man noch. Wir haben das ja auch oft durchgespielt, was dann zu tun ist. Schienensuizid ist immer ein Thema, in der Ausbildung und unter Kollegen. Mit Freunden hatte ich schon überlegt, wen es von uns als Erstes treffen würde. Das war jetzt ich. Erst mit der Zeit merkte ich, wie meine Knie wacklig wurden. Langsam sickerte durch, was wirklich passiert war. Dann musste ich noch die Fahrgäste informieren. Ich weiß nicht, wie da meine Stimme klang.


Drei Stunden war ich noch vor Ort. Die Ablösung kam erst nach Mitternacht. Ich saß die meiste Zeit im Führerstand. Anfangs war ja auch noch was zu tun. Den Fahrtenschreiber anhalten, die Fragen der Polizei und des Notfallmanagers beantworten: Wie schnell durften Sie fahren? 120 km/h. Wie schnell sind Sie gefahren? 120 km/h. Ich hatte keine Schuld, das wusste ich. Mit dem Menschen, der sich getötet hat, habe ich mich nicht beschäftigt, auch später nicht. Ich weiß nicht einmal, ob es ein Mann oder eine Frau war. Ich glaube, das ist gut so, man muss das von sich fernhalten. Aber über das Ereignis reden, das muss man. An dem Abend ist in ­meiner S-Bahn ein Kundenbetreuer mitgefahren, der hat mir am Bahnsteig sehr geholfen. Nicht nur weil er sich um die Fahrgäste gekümmert hat. Sondern weil er mir zugehört hat, auch wenn ich bestimmt immer wieder das Gleiche erzählt habe. Als ich in der Nacht nach Hause kam, habe ich mich erst mal vor den Fernseher gesetzt. Aber am nächsten Morgen habe ich den psychologischen Dienst der Bahn angerufen. Mehrmals ging ich dann zur Psychologin. Auch sie hat mich vor allem erzählen lassen, und das war genau das Richtige. Zwei Wochen war ich krankgeschrieben, danach stieg ich wieder in die S-Bahn. Es geht wieder, aber natürlich denke ich jedes Mal daran, wenn ich an den Gärten vorbeifahre. Ich kenne Kollegen, die sind so traumatisiert, die können danach gar nicht mehr fahren. Jeder ist anders, auch die Umstände sind immer anders. Ich weiß nur, dass mir das Reden geholfen hat."

Jochen Heinze, 33, Brandmeister der Freiwilligen Feuerwehr, Bad Camberg bei Limburg

"Ich war gerade von der Arbeit gekommen. Hatte mich aufs Sofa gesetzt, den Fernseher angestellt. Dann ging der Piepser: "Person unter Zug." Wieder ins Auto, zur Feuerwehrwache. Man hat immer nur ein paar Minuten, um sich auf das, was kommen könnte, ­einzustellen. Bahnunfall, das heißt weniger: Ich kann helfen. Ich überlegte mir an dem Abend eher: Was erwartet mich - welches Leid, aber auch welcher Anblick? Von der Wache aus fuhren wir mit zwei Fahrzeugen, im zweiten war ich Gruppenführer. Per Funk waren wir mit der Leitstelle verbunden, und während der Fahrt bestätigte sich, dass es nicht mehr um Lebensrettung ging. Das nahm ein bisschen Druck raus, es zählte nicht mehr jede ­Sekunde.


An der Unfallstelle angekommen, sahen wir erst mal gar nichts. Wir leuchteten dann mit Taschenlampen die Strecke ab. Eine Grundangst ist immer dabei: Kenne ich den, den ich da finden werde? Ich kannte die Person nicht, aber das, was ich von ihr sah, habe ich heute noch vor Augen. Einzelne Gliedmaßen, die wir buchstäblich zusammensuchen mussten, ein Mensch, der kaum mehr als ein solcher zu erkennen war. Es war total unwirklich und ein grauenvoller Anblick. Wenn mir einer sagt, so etwas berührt ihn nicht, das glaube ich einfach nicht. Das sind Bilder, die brennen sich Ihnen ein. Ich verstehe nicht, warum sich jemand auf diese Weise umbringen muss und so viele andere mit reinzieht. Vor allem die Lokführer, die sind danach oft völlig fertig. Auch für ­meine Leute trage ich da Verantwortung. Bei diesem Einsatz saß ein junger Kollege mit im Wagen, 17 Jahre alt. Bevor wir an der Einsatzstelle ausstiegen, nahm ich ihn beiseite und fragte ihn, ob er lieber im Fahrzeug bleiben und den Funk besetzen wolle. Er überlegte und sagte dann Ja. Ich finde, das ist keine Schwäche, im Gegenteil. Hinterher hat er sich übrigens bedankt, mehrmals.


Nach jedem Einsatz setzen wir uns noch einmal zusammen und trinken was, Kaffee, Wasser, ja, auch mal ein Bier. Dann reden wir, nicht nach Plan, einfach irgendwas. Da merkt man schnell, wen hat es mehr mitgenommen, wen weniger. Wir kennen uns halt alle auch sehr gut. Geschlafen habe ich in dieser Nacht trotzdem nicht, auch die Nächte danach nicht besonders gut. Es braucht seine Zeit, um so ein Erlebnis zu verarbeiten, bei mir dauerte es vielleicht eine Woche. Aber man muss das irgendwann abschließen, damit man den Kopf wieder frei hat für den ­nächsten Einsatz. Denn der kommt bestimmt."

 

Christine Stecklum-Mühle, 57, ehrenamtliche Notfallseelsorgerin, Griesheim bei Darmstadt

"Mein Einsatz endet immer mit dem gleichen Ritual: Ich ziehe meine leuchtend gelbe Notfallseelsorgerjacke aus und hänge sie sorgfältig an den Haken. Und die Gedanken erst einmal auch. Erinnern tue ich mich natürlich dennoch. Auch an dieses Zugunglück. Am Morgen hatte mich die Leitstelle angerufen. Jemand hatte sich vor die Bahn geworfen, ob ich mich um den Lokführer kümmern kann? Ich bin in meiner Bereitschaftswoche 24 Stunden im Dienst und fange in der Zeit nichts an, was ich nicht sofort stehen und liegen lassen kann.


Der Zug stand auf freier Strecke, die war längst abgesperrt. Er war voller Menschen, Jugendliche, die zur Schule mussten, Studenten auf dem Weg zur Uni. Die Unglücksstelle lag fast einen Kilometer zurück, sie war von hier aus nicht mehr zu sehen. Mein erster Gang war zum Zugführer. Ein junger Mann, 27 Jahre alt. Er saß noch im Führerhaus, bei ihm ein Rettungs­assistent. Medizinisch war er okay. Ob die Fahrgäste Bescheid wüssten? Nein, wohl nicht, meinte er zögerlich. Der Rettungs­assistent blieb bei ihm. Ich habe tief durchgeatmet und bin dann durch die Bahn. Ich habe den Leuten gesagt, warum wir hier stehen. Auch, dass ein Mensch vor den Zug gesprungen war. Und ich habe angeboten: Wer will, kann mit mir reden. Es kamen viele, einige wollten schlichtweg wissen, wann und wie es weitergeht. Aber es gab auch Gespräche darüber, warum sich jemand töten will. Eine ­Chinesin bat mich, mit ihr zu beten. Ich hätte mehr Mitstreiter gebraucht, aber das wussten wir ja vorher nicht. Mit dem Zugführer sprach ich dann erst danach. Ich fuhr ihn zu seinem Auto, und wir tranken noch einen Kaffee zusammen. Begannen irgendwann, uns zu duzen. Immer wieder ließ er die Ereignisse in seinem Kopf Revue passieren. Habe ich die Betriebsleitung überhaupt in­formiert? ­Habe ich den Wagen richtig zum Stehen gebracht? ­Gemeinsam sind wir das Erlebte durchgegangen, mehrmals, und haben dabei viele Schleifen gedreht. Erst langsam kommt so ­jemand in der Realität an. Wann das ist, das spüren Sie genau. Zum Abschied hat er mich umarmt und gemeint: Jetzt kann ich wieder Luft holen. Für mich war noch wichtig zu wissen: Er hat jemanden zu Hause, der für ihn da ist. Er ist nicht alleine damit."

 

Peter Meyer, 57, Rettungsassistent beim Deutschen Roten Kreuz, Rüdesheim am Rhein

"Der junge Mann lag bei uns im Rettungswagen. Die Kollegen hatten schon die Erstversorgung übernommen, als ich kam. Der Zug hatte ihn überrollt, er hatte es überlebt, obwohl er offenbar sterben wollte. Aber beide Beine waren abgetrennt. Die Blutung konnten wir stillen, auch war er kreislaufstabil. Eine lebensgefährliche Verletzung war es natürlich trotzdem. Ein Hubschrauber brachte ihn dann in die ­Klinik. Als alles vorbei war, übernahm ich das Putzen und Aufräumen im Fahrzeug. Das gehört zu jedem Einsatz, der Wagen muss schnell wieder fahrbereit sein. Dann wurde ich noch einmal gerufen, diesmal nach drüben in die ­Feuerwehr. Die Wache liegt direkt gegenüber von unserer. "Hier steht einer von unseren Kameraden", hieß es, "das ist der Bruder."


Ich bin kein Psychologe. Ich wurde verständigt, weil ich vor Ort war, wohl auch, weil ich recht erfahren bin. Seit dreißig Jahren bin ich im Rettungswesen. Habe auch Katastropheneinsätze im Ausland hinter mir. Ich mache in solchen Situationen das, was mir der gesunde Menschenverstand sagt. Da sein und zuhören. Mal jemanden in den Arm nehmen. Natürlich schaue ich immer auch auf die körperlichen Symptome. Der Kreislauf kann bei so einer Nachricht schon mal zusammenbrechen. Meistens fühle ich zuerst den Puls, aber das hat nicht nur medizinische Gründe. Ich schaffe damit eine erste Verbindung zu dem anderen, kann ausloten, wie es ihm geht. Und er spürt körperlich, dass ich bei ihm bin.


Eine halbe Stunde etwa blieb ich bei dem jungen Feuerwehrmann. Sein Bruder, der Patient, bekam jetzt ein Gesicht für mich, wurde zu einem Menschen mit einer Geschichte. Auch danach sind wir uns immer mal wieder über den Weg gelaufen. Er hielt mich auf dem Laufenden, erzählte, wie der Bruder das Gehen neu lernt, mit zwei Prothesen. Eineinhalb Jahre später aber, da fanden wir den jungen Mann ­wieder auf den Gleisen. Diesmal konnten wir ihn nicht retten. In den vielen Jahren in meinem Beruf habe ich vor allem eines gelernt: Man kann das Leben nicht immer verstehen."

Siegfried Manoch, 54, Kriminalhauptkommissar, Leiter des Fachkommissariats K 11 (Tötungsdelikte, Leichen- und Vermisstensachen), Frankfurt am Main

"Als der Anruf kam, hatte ich Bereitschaftsdienst. Zusammen mit einem Kollegen fuhr ich an den Ort des Geschehens, Tatort kann man hier nicht sagen. Ein Stellwerk am Rand von Frankfurt. Auf den Schienen ein toter Gleisarbeiter, daneben seine fassungslosen Kollegen. Es war ein Unfall, das war schnell klar. Der Mann hatte das Warnsignal nicht gehört oder nicht beachtet. Er wollte über die Gleise springen und war dabei von einem ICE erfasst worden. Als wir ankamen, war der Zug schon weg. War weitergefahren, der Fahrer hatte das Unglück gar nicht bemerkt. Das kommt vor. Und wenn nicht: Die Lokführer haben keine Chance. Ein ICE hat bei hoher Geschwindigkeit einen Bremsweg von zwei Kilometern. Da geht nichts mehr.


Wir taten das, was unsere Aufgabe ist. Wir waren beide nicht das erste Mal bei einem solchem Einsatz. Die Identifizierung der Leiche war in diesem Fall nicht schwer. Auch den Tathergang konnten wir gut rekonstruieren. Die anderen Arbeiter hatten ja alles beobachtet. Wir konnten sie befragen, und sie konnten aussagen. Jeder, der nicht umgekippt ist, kann aussagen. Aber klar darf man nicht vergessen: Sie hatten soeben ihren Kollegen sterben sehen, vielleicht war er ein guter Freund gewesen. Und der Anblick einer Bahnleiche kann einem sowieso an die Nieren ­gehen. Manchmal sind da nur weit verstreute Körperteile, die wir dann zusammensuchen müssen.


Es klingt vielleicht komisch, aber mir macht das nichts aus. Ich habe an die tausend Tote gesehen, natürlich nicht nur an den Gleisen. Das gehört zu meinem Job, das wusste ich von Anfang an. Davon kriege ich keine schlaflosen Nächte. Schlimmer finde ich es, wenn man Angehörigen die Todesnachricht überbringen muss. Man weiß vorher nie, wer zu Hause ist. Und dann macht jemand die Tür auf, sieht uns da stehen - und hat meist schon eine Vorahnung. Wenn wir dann noch fragen, ob wir rein­kommen dürfen und die Leute bitten, sich zu setzen, dann ist oft schon alles klar. Jetzt die richtigen Worte zu finden, ist nicht immer leicht. Im Falle des Gleisarbeiters musste ich das nicht übernehmen, da ist jemand von der Bahn hingegangen. Das sind Momente, die gehören dazu. Aber um die reißt man sich nicht."


Dieser Beitrag ist erstmals in der Ausgabe Mai 2009 des evangelischen Monatsmagazins "chrismon" erschienen. Fotos: Michael Hudler