Erblindung durch Gendefekt - Protokoll eines Neuanfangs

Erblindung durch Gendefekt - Protokoll eines Neuanfangs
Blind, in ihrem Alter! Das fällt auf, und auffallen wollte sie auf keinen Fall. Also mogelte sich Nadine Beier, heute 31 Jahre alt, durch – bis auch das nicht mehr ging.
14.10.2009
Protokoll: Christine Holch

Vor einem Jahr konnte ich noch Gesichter erkennen. Jetzt nicht mehr. Das vermisse ich, die Gestik und Mimik. Und das Autofahren! Vor zehn Jahren fing es an: Ich hab was auf den Tisch gelegt, und wenn ich wieder hinguckte, war es weg. Der Arzt sagte: Retinitis Pigmentosa, ein Gendefekt. Die Zellen im Augenhintergrund sterben ab, man erblindet. Ich war fassungslos.

Aber erst mal habe ich so weitergelebt wie bisher. Ich war eine Partygängerin, hatte einen großen Freundeskreis. Doch dann wollte ich immer relativ früh nach Hause. Weil ich es so anstrengend fand, auf Hilfe angewiesen zu sein – man musste mich zur Toilette begleiten, mir sagen, wo Stufen sind. Ich bin oft hingefallen. Ich hatte einen Tunnelblick, ich sah nicht, was oben, unten und seitlich war.

Leute reichten mir die Hand - ich sah es nicht

Und dieses Sehfeld wurde immer kleiner. Aber ich hab alles dafür getan, dass das nur wenige mitkriegen. Deshalb gab es viele Missverständnisse: Leute reichten mir die Hand, und ich nahm sie nicht – weil sie unterhalb meines Sehausschnitts war. Ich galt wohl als arrogant. So zog ich mich zurück, und die Leute aus der Clique fragten nicht nach. In dem Dorf, in dem ich wohne, gibt es keine anderen Blinden. Ich wollte nicht auffallen. Dazu war ich absolut nicht bereit. Also habe ich mich jahrelang rumgemogelt. An der Kasse kramte ich in meiner Tasche rum, bis mir die Kassiererin das Rückgeld direkt in die Hand gab: Hallo, ihr Rückgeld! In der Praxis, wo ich Zahnarzthelferin war, haben sie Rücksicht genommen; und ich konnte ja noch Dinge fokussieren, wenn ich wusste, wo sie lagen.

Aber dann ging es rapide abwärts, ich musste meine Arbeit aufgeben. Es ging mir richtig schlecht. Ich hatte das Gefühl, ein einsamer Sonderfall zu sein. Nichts mehr wert. Bis ich mir sagte: Entweder ich trauere weiter und gehe daran zugrunde, oder ich finde mich damit ab.

Mittlerweile gehört der Stock zu mir

Vor einem Jahr habe ich mit dem Stocktraining begonnen. Die Leute im Dorf hören auf zu sprechen, wenn ich an ihnen vorbeigehe. Und Verkäuferinnen laufen vor mir davon – sie denken, ich sehe gar nichts mehr. Aber derzeit bin ich meist in Düren, hier sind die Leute an Blinde gewöhnt. Ich lerne Physiotherapeutin im Berufsförderungswerk für Blinde und Sehbehinderte. Mittlerweile gehört der Stock zu mir. Gut, ich würde keine Lichterketten dranhängen, aber es geht eben nicht mehr ohne. Selbst Müll bringe ich nur noch mit Stock raus.

Hier sind lauter Menschen, denen es genauso geht. Die meisten waren, als sie herkamen, sozial runtergeschraubt. Jetzt gehen wir shoppen, in Kneipen, manche auch ins Kino, obwohl sie vollblind sind. Einer hat sogar ein Dauerabo. Irgendwann probiere ich das auch aus.

Ich hab früher viel Fernsehen geschaut,war viel im Internet – hier reden wir und reden. Früher hat mich nicht groß interessiert, was andere Leute denken. Ich glaube, ich war oberflächlich. Ich bin einfühliger geworden, erkenne schon an der Stimme, wenn jemand ein Thema brenzlig findet.

Ich urteile nicht mehr so schnell

Und ich habe mich hier mit Leuten befreundet, die hätte ich früher nie kennengelernt. Einer zum Beispiel, aus der Heavy-Metal-Szene, den ich anfangs noch sehen konnte: schwarzer Mantel, Ketten und Nietenarmbänder – gruselig, hätte ich gesagt. Mit dem bin ich jetzt gut befreundet. Ich urteile nicht mehr so schnell.

Natürlich gibt es immer noch peinliche Situationen. Wenn ich in eine Hecke laufe. Oder ins Leere spreche, weil jemand kurz vom Tisch aufgestanden ist und mir das nicht gesagt hat. Blöd sind die Blicke im Nacken, wenn einen Leute beobachten: Packt sie das jetzt? Das macht unsicher. Und blöd ist, wenn Leute extra laut mit mir sprechen. Hej, ich bin blind, aber mit den Ohren hab ich nichts!

Ich bin noch nicht so unbeschwert, wie ich gerne wäre. Aber es ist wieder ein normales Leben. Jetzt spare ich auf eine SMS-Sprachausgabe und auf einen Scanner, damit mir der PC meine Post vorliest – derzeit muss ich ja alles offenbaren: Kontoauszüge, Briefe ... Das ist dann ein Stück Freiheit.


Dieser Artikel ist bereits in der Rubrik "Anfänge" im Magazin "chrismon" erschienen.