Ein Tag im Gericht im Bradley Manning

Bradley Manning wird in den Gerichtssaal geführt
Foto: dpa/Pete Marovich
Whistleblower Bradley Manning wird in den Gerichtssaal geführt (Foto vom 10. Juni).
Ein Tag im Gericht im Bradley Manning
Um den US-Whistleblower Bradley Manning ist es ruhig geworden, seit alle Welt von der NSA und Edward Snowden spricht. Max Böhnel hat trotzdem die Militärsiedlung Fort Meade besucht, in der Manning einsitzt – und einen halben Gerichtstag miterlebt, nur ein paar Meter von Bradley Manning entfernt.

Dem Wegweiser nach Fort Meade zu folgen, hat etwas Unwirkliches an sich. Denn die mit Drahtzäunen, Kameras und Schießwarnungen abgeschirmte Militärstadt versteckt sich ganz banal: hinter nachlässig geschnittenen Laubbäumen in der Pampa, 50 Kilometer nördlich von Washington. Noch langweiliger:  morgens um sieben Uhr gähnen einen die Pendler im Berufsverkehr mit seinem Stop-and-Go aus ihren Fahrzeugfenstern an. Wissen sie denn nicht, dass Fort Meade das Haupthauptquartier der ehemals geheimsten Geheimbehörde der Welt, die NSA, beherbergt? Ist ihnen egal, dass hier außerdem Bradley Manning im Militärgefängnis einsitzt?

Das NSA-Gebäude ist nicht zu sehen, sein Standort nicht einmal zu erahnen. Es versteckt sich in der Stadt Fort Meade: Hier gibt es mit Kindergärten, Kinos, Supermärkte und Mietwohnungen. Außerdem schirmen sich die NSA-Spione auch innerhalb von Fort Meade ab, sie haben ihre eigene Autobahnzufahrt. Ein entsprechendes Schild sagt nur "NSA" – ein anderes "Employees only".     
Vor dem Haupteingang von Fort Meade an der Reece Road, die für die Öffentlichkeit problemlos zugänglich ist, steht seit Anfang Juni – seit dem Prozessbeginn gegen Bradley Manning – jeden Montagmorgen eine Gruppe von Manning-Unterstützern. "Free Bradley Manning" heißt es unübersehbar auf Plakaten.

Eine Ankündigung für die örtlichen Feierlichkeiten zum Unabhängigkeitstag am 4.Juli haben die anwesenden Aktivisten am frühen Morgen überhängt mit einem ganz eigenen Transparent: "Arrest the real criminals - Free Bradley Manning". Das Gesicht des Obergefreiten ist auf Fahnen abgebildet. Zwei Dutzend Aktivisten meist älterer Jahrgänge haben sich auf dem Grünstreifen neben der Einfahrt zu Fort Meade versammelt. "Präsenz zeigen" heißt offenbar die Devise, obwohl der heutige Prozesstag gegen Bradley Manning wenig Neues und nichts Spektakuläres erwarten lässt.

Zum Protest aufgerufen hat das "Bradley Manning Support Network", das in den vergangenen Jahren mit seiner Webseite auch international bekannt geworden ist. Die Menschenrechtsaktivistin Farah Mohsin al-Mussawi aus Bagdad wartet bereits auf mich. Sie ist Mitte 20, kurzhaarig und begrüßt mich freundlich durch ihre schicke Brille. Für das Netzwerk organisiert Farah Mohsin al-Mussawi die Pressearbeit; in ihrer Heimat hatte sie die Irak-Invasion der USA miterlebt. "Die Milizen vertrieben damals nach der Invasion mich und meine Familie", sagt sie. Nach fünf Jahren als Flüchtling in Syrien sei sie von einer US-Universität als Studentin aufgenommen worden. "Bradley Manning hat öffentlich gemacht, was ich persönlich erlebt habe", erläutert Farah Al-Mussawi ihre Beweggründe, dem Unterstützerkreis beizutreten, "Kriegsverbrechen an irakischen Zivilisten durch die US-Invasoren". Gut 40 Jahre älter ist der weißhaarige Chuck Heyne. Als Teilnehmer am Vietnamkrieg habe er selbst "Kriegsverbrechen direkt miterlebt und Selbstmordgedanken gehabt". Allein deshalb sympathisiere er mit Manning und fordere dessen Freilassung.

Eine halbe Stunde vor dem offiziellen Gerichtsbeginn rollen die Unterstützer ihre Transparente zusammen und begeben sich zu ihren Autos auf dem Parkplatz vor dem Haupteingang. Die Soldaten lassen sich nur den Führerschein zeigen und werfen einen kurzen Blick in den Kofferraum. In Fort Meade geht es einen guten Kilometer an zivil anmutenden Backsteinhäuschen und ein paar Biegungen entlang. An einem unscheinbaren einstöckigen Gebäude steht "court room". Martialisch ausgerüstete Militärpolizei, die hier am ersten Gerichtstag am 3. Juni aufmarschiert war, ist heute nicht zu sehen.

Eine Einmann-Eskorte führt mich und neun weitere Besucher an einem Zaun entlang in einen provisorischen Metallcontainer. Zwei Soldaten filzen mich, es dauert aber weniger lang als an einem US-Flughafen. Ich habe entsprechend der Regelungen nichts Verbotenes an mir: kein Aufnahmegerät, keine Kamera, kein Handy, kein T-Shirt mit politischem Slogan. Mein deutscher Reisepass wird mir ungeöffnet zurückgegeben. Er interessiert sie nicht.

Fünf Minuten später befinde ich mich in einem winzigen Gerichtssaal: jeweils vier Sitzbankreihen, der Boden aus billigem Mehrzweckfilz. Gut 30 Besucher haben sich eingefunden, etwa die Hälfte der Gesichter erkenne ich von der Mahnwache kurz davor. Die andere Hälfte: vermutlich Journalisten, ein Gerichtszeichner und Zuhörer in Anzug und Hosenanzug. NSA? Angehörige? Geschäftsleute? Nicht auszumachen. Es ist totenstill im Saal. Ich kann in der zweiten Reihe Platz nehmen – und stelle fest, dass keine fünf Meter von mir entfernt bereits Bradley Manning sitzt. Er wendet uns wie seine Verteidiger den Rücken zu.

Zuhörer, Verteidigung, Angeklagter und Anklage befinden sich auf engstem Raum zusammen, rein örtlich durch nichts voneinander getrennt. Bradley Manning ist deutlich kleiner als seine Anwälte. Wie auf den Fotos trägt er eine Brille. Er ist schmächtig. Sein Bürstenhaarschnitt und seine Militäruniform unterscheiden ihn äußerlich nicht von seiner Umgebung. Er macht einen gefassten und konzentrierten Eindruck. Zu keinem Zeitpunkt wendet er sich uns Zuhörern zu, ebensowenig wie seine Anwälte. An diesem Gerichtstag wird er keine Mine verziehen und kein Wort sprechen. Er wird sich ab und zu Notizen machen und hier und dort einen oder zwei Sätze mit seinem Anwalt flüstern. Nichts weiter.

Im Gerichtssaal herrscht absolutes Schweigen. "Kaugummi kauen, schlafen, laut Rascheln, Flüstern oder Sonstiges, was zur Störung des Gerichts führen könnte", werde mit der sofortigen Entfernung durch Militärpersonal beantwortet, erklärt zu Beginn ein glatzköpfiger Uniformierter kurz und knapp. Links und rechts der Zuschauerbänke sitzen jeweils zwei legere Sicherheitsbeamte in Zivil – offenbar bereit, auf Störer sofort zuzugreifen. Probe aufs Exempel: als ich mittellaut huste - nicht aufdringlich, aber hörbar – merken die Beamten sofort auf. Einer fixiert mich für gut eine Minute.

Das Urteil darüber, wer "Störer" ist, obliegt aber offenbar der Richterin Denise Lind, die die Kriterien immer wieder nach Gutdünken verschiebt. Bei den Anhörungen vor den offiziellen Gerichtstagen hatte sie Besuchern das Tragen von T-Shirts mit der Aufschrift "Free Bradley Manning" untersagt. Wer dies dennoch tat, wurde unter Androhung von Gewalt aus dem Saal eskortiert. Später wurde angeordnet, dass T-Shirts mit der simplen Aufschrift „Truth“ (Wahrheit) nicht akzeptabel seien. Stattdessen könnten Besucher ihre T-Shirts umdrehen und die Aufschrift nach innen tragen. Als Unterstützer mit T-Shirts auftauchten, die "Truth"“ spiegelverkehrt zeigten, gab sie nach. Inzwischen moniert sie "Truth" auch in der korrekten Schreibweise nicht mehr. Aber das kann sich wieder ändern.

Seit der Name Edward Snowden die sensationshungrigen Medien beschäftigt, fällt der Name Bradley Manning kaum noch. Und das, obwohl in Fort Meade bis Ende August pro Woche mehrere Gerichtstermine anberaumt sind. Laut Pentagon haben fast 400 Journalisten eine Akkreditierung beantragt. 70 wurden zugelassen. Aber an einem "normalen" Gerichtstag taucht nur ein Bruchteil der Journalisten auf. An diesem Mittwoch sind es ganze elf, die Hälfte davon Blogger und Berichterstatter von Nachrichtenagenturen.

In der US-weiten und internationalen Berichterstattung fällt deshalb an diesem "unspektakulären" Mittwochstermin ein Punkt unter den Tisch: Die peinlichen Depeschen des USA-Außenministeriums, die Manning eingestanderermaßen an Wikileaks weitergegeben hatte, waren für Zehntausende von Regierungsangestellten und Soldaten einsehbar. Das sagt nach ein paar neugierigen Nachfragen des Verteidigers David Coombs ein Zeuge der Anklage. Er ist kein anderer als der damalige Chef-Internetexperte des USA-Außenministeriums Charlie Wisecarver. Er wird für etwa eineinhalb Stunden von Anklage und Verteidigung im Zeugenstand befragt.

Die Weitergabe der 251287 Depeschen hatte Außenministerin Hillary Clinton als "Angriff auf die internationale Gemeinschaft" bezeichnet. Wisecarver erläutert dagegen, dass zu den Daten des Pentagon dieses Kalibers mehr als 20000 Angestellte des Außenamtes Zugriff hatten – ohne dafür ihre besondere Befugnis ausweisen zu müssen. Zumindest in diesem Punkt ist Bradley Manning demnach kein Geheimnisverräter. Aber weder "New York Times" noch "Wall Street Journal", CNN oder Fox berichteten darüber. Da es sich um ein teilweise geheimes Militärgericht handelt, bleibt deshalb auch fraglich, ob Wisecarvers Zeugnis überhaupt Einfluss haben wird auf das Urteil – wie so viele andere Details.

Nicht nur für mich als Beobachter ohne juristischen - geschweige denn militärjuristischen - Hintergrund ergeben sich nach der ersten Tageshälfte mehr Fragen als Antworten. Auf Nachfrage sagt der junge Blogger und Gerichtsreporter Nathan Fuller, der das Prozedere für das "Bradley Manning Support Network" in eine verständliche Sprache zu übersetzen versucht, er bezweifle den demokratischen Charakter der US-Militärgerichtsbarkeit. Einige ausländische Kollegen, die vor Ort in Guantanamo waren, sind sogar der Meinung, das Manning-Verfahren sei wegen Zensur und Geheimhaltung kaum zu durchschauen. Eine wohlhabende Aktivistin, die die unabhängige Berichterstattung mit viel Geld unterstützt,  flüstert mir am Ende zu, es handle sich "um reines Militärtheater mit System". Manning habe "null Chancen, Zeit seines Lebens in die Freiheit entlassen zu werden".