Historische Noten im Tresor: Das älteste Gesangbuch

epd-bild/Hans-Jö†rg Hö†rsel
Klein und unscheinbar, aber dennoch eine kostbare Rarität: Das "Färbefaß-Enchiridion".
Historische Noten im Tresor: Das älteste Gesangbuch
Nur mit Stoffhandschuhen fassen Archivare es an. Das "Erfurter Färbefaß-Enchiridion" wurde 1524 gedruckt und gilt als das erste Gemeindegesangbuch der Welt. Durch Zufall hat das einzig erhaltene Exemplar fast ein halbes Jahrtausend überstanden.
23.06.2013
epd
Charlotte Morgenthal

Helmut Liersch streift sich weiße Stoffhandschuhe über die Hände. Vorsichtig hebt er dann einen Kasten aus dem Tresor der Marktkirchen-Bibliothek in Goslar. Das kleine Buch darin wirkt unscheinbar. Doch es ist eine kostbare Rarität. "Für Transporte versichern wir es mit einer sechsstelligen Summe", verrät der ehrenamtliche Bibliotheksleiter Liersch. Das "Erfurter Färbefaß-Enchiridion" aus dem Jahr 1524 gilt als das erste protestantische Gemeindegesangbuch.

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Nur durch Zufall hat das 48 Seiten umfassende Buch fast ein halbes Jahrtausend überstanden, berichtet Liersch, der bis 2011 Propst von Goslar war. Das Handbuch (Enchiridion) trägt den Beinamen "Färbefass" nach dem Haus seines Druckers in der thüringischen Stadt. Gedruckt wurde es noch vor Erscheinen der ersten Lutherbibel. Sieben Jahre zuvor hatte der Reformator Martin Luther (1483-1546) seine 95 Thesen an die Tür der Wittenberger Schlosskirche geschlagen.

Im Schuhkarton hinter einer Schornsteinklappe

Durch den Buchdrucker und späteren Rechtsvertreter von Goslar, Ludwig Trutebul, gelangte das Buch im 16. Jahrhundert in den Harz. Der habe es der 1535 gegründeten Bibliothek neben der Marktkirche geschenkt, vermutet der ehrenamtliche Bibliothekar Liersch. 1841 wurden die Bücher in einen Verschlag in der benachbarten Kirche verlagert. Drei Jahre später stand die Kirche in Flammen. "Die Bücher haben den Brand allerdings wie durch ein Wunder überstanden", fügt Liersch hinzu. 

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Die Noten sind Zeugnis der ersten Lieder des Reformators Luther. Einige der 26 Musikstücke, wie das Osterlied "Christ ist erstanden", werden auch heute nach 500 Jahren noch in Gottesdiensten gesungen. Vorsichtig blättert Liersch mit den weißen Handschuhen durch das Buch und deutet dabei auf die dünnen Linien mit den fast quadratischen Notenköpfen. "Die Noten wurden damals mit groben Holzschnitten akkurat auf das dicke Papier gedruckt", erklärt er. Weil die Bürger so Melodie und Text nachlesen konnten, konnten sie erstmals die Lieder selbst in deutscher Sprache singen.

Dass sich zwischen den insgesamt 1.500 Büchern der Marktkirchenbibliothek eine kleine Kostbarkeit verbirgt, habe wahrscheinlich über mehrere Jahrhunderte keiner gewusst, vermutet der ehemalige Propst von Goslar. Erst im 19. Jahrhundert wurden das Buch und sein Wert wieder entdeckt. "Allerdings wurde das wertvolle Buch zunächst einfach in einem Schuhkarton hinter einer Schornsteinklappe versteckt", ergänzt Liersch.

"Manchmal vergesse ich das Essen"

In den 1970er Jahren fand das Gesangbuch dann einen entsprechenden Platz im Tresor in einem Neubau unweit der Kirche. Dort ist der 66-jährige Bibliothekar in den bisher weitgehend unerforschten Buchbänden ständig auf der Suche nach weiteren historischen Schätzen. So fand er heraus, das ein Großteil der Bände aus dem 15. Jahrhundert der Bibliothek von einem reformierten Mönch aus Halberstadt gestiftet wurde. Mehrmals in der Woche steht Liersch über die Bücher gebeugt an seinem Schreibtisch. "Manchmal vergesse ich dabei auch das Essen", sagt er.

Erst kürzlich hat er gemeinsam mit einem befreundeten Wissenschaftler an den Seitenrändern eines Bandes handschriftliche Notizen von Martin Luthers Mitarbeiter Philipp Melanchthon (1497-1560) entdeckt. Die historische Sammlung biete einen unendlichen Reichtum, sagt der Bibliothekar. "Das ist, als wenn man eine Tür öffnet, und wieder vor zwei neuen verschlossenen Türen steht."