"Amokschützen sind keine Dämonen von außerhalb"

Erfurt
SZ Photo/ddp images/AP
Hand in Hand in Trauer vor den Blumensträußen auf den Stufen des Gutenberg-Gymnasiums vor zehn Jahren in Erfurt.
"Amokschützen sind keine Dämonen von außerhalb"
"Warum bleiben auch zehn Jahre nach dem Amoklauf am Gutenberg-Gymnasium in Erfurt die wichtigsten Fragen des Falls weiterhin offen?", fragt Schriftstellerin Ines Geipel in ihrem Gastbeitrag zum Schwerpunktthema "Amoklauf". Die Täter kämen immer von innen, sagt sie. Dort müsse auch nach den Ursachen gesucht werden.

Ein ganz normaler Morgen eines 19-Jährigen: Kurz nach 9 Uhr vor dem Computer sitzen und "Quake", das Lieblingsspiel, spielen. Mit dem Cursor das Blut wegklicken, damit das Töten auf dem Bildschirm schneller geht. Dann die Maschine herunterfahren. Sie ausschalten. Frühstück: Kaffee und Salamibrötchen, wie immer. Sich kurz darauf anziehen, um die elterliche Wohnung zu verlassen. Es ist Abiturzeit und Englisch, die vierte schriftliche Prüfung steht an. Das sei ja jetzt die letzte, muntert die Mutter den Sohn auf. Der Vater drückt den Jüngsten an die Brust: "Jetzt geht's um die Wurst!" – "Ja, dann ist Schluss", sagt Robert Steinhäuser.

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Erfurt vor zehn Jahren, am 26. April 2002. Ein kalter Freitagvormittag. Auf der Jungstoilette im Erdgeschoss des Gutenberg-Gymnasiums wechselt der Teenager binnen Sekunden in sein anderes Programm. Aus dem vermeintlichen Abiturienten wird kurz nach elf Uhr ein Ninja-Krieger mit gestrickter Wollmaske und einem langärmligen Sweatshirt. Am rechten Bein oberhalb des Knies befestigt er ein Oberschenkel-Holster. Dazu trägt er Fingerhandschuhe. Unnötig zu sagen, dass das Kampf-Outfit komplett in Schwarz sein muss. Um 11.04 Uhr geht bei der Erfurter Polizei der erste Notruf aus der Gutenberg-Schule ein. Das, was bisher nur in den USA, Kanada oder Australien denkbar schien, wird an diesem Morgen deutsche Realität: Robert Steinhäuser tötet an seiner Schule 16 Menschen und richtet dann sich selbst.

Zehn Jahre später leiden zu viele an ihren Erinnerungen

Schockstarre, Trauer, Angst, mediale Dauerdebatten. Wer war dieser Teenager, der das Land an diesem Morgen so kalt überrennen konnte? Was ist von einem Schulsystem zu halten, das solche seelisch deformierten Täter produziert? Welche Computerspiele, woher die Waffen? Wie soll man mit dem immer früheren Eindringen von medialer Gewalt in die Köpfe von Heranwachsenden umgehen? Mit einem Mal gab es unendlich viel zu reden, als müsse wie im Zeitraffer Wirklichkeit nachgeholt werden. Die Politik war es, die den Akutbedarf ablöschte: "Das ist das Unheil, das vom Himmel gefallen ist", hieß es. War es Ohnmacht, Reflex, Hilflosigkeit oder gar Kalkül?

Heute, zehn Jahre später, ist Erfurt noch immer eine Wunde. Viel zu viele ehemalige Schüler des Gutenberg-Gymnasiums leiden an ihren Erinnerungen. Sie kommen nicht mehr raus aus dem Epizentrum des Geschehens, haben andere Bilder in sich als die, die man zu offiziellen gemacht hat. "Was wir gebraucht hätten, wären genaue Informationen gewesen", sagt einer der Angehörigen. Wo aber blieben sie? Was behinderte die Aufarbeitung des Erfurter Amoklaufs?

Erstaunlich viel bleibt bis heute ohne Antwort

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Die Erfurter Staatsanwaltschaft musste alles unternehmen, um in der Mordserie auf größtmögliche Klarheit zu dringen. Doch für die Aufklärung des Tatgeschehens wurde aus unerklärten Gründen kein Staatsanwalt freigestellt. Eine Sonderermittlungsgruppe kam nicht zum Einsatz. Damit ging die Aufarbeitung schnell an die Thüringer Landesregierung über, was die Aufklärung nicht beförderte. Denn erstaunlich viel bleibt über jenen Schwarzen Freitag in Erfurt bis heute ohne Antwort.

Was hatte es mit den Warnsignalen und Anrufen vor dem Massaker auf sich, die am Gutenberg-Gymnasium eintrafen und aus der Steinhäuser-Familie, beziehungsweise einer Schule aus der Stadt gekommen sein sollen? Wie sah es mit dem Täter-Umfeld aus? War Robert Steinhäuser, wie stadtintern rasch nahegelegt wurde, ins Drogenmilieu oder andere Submilieus verstrickt und der 19-Jährige nur eine Strohfigur für ein ganz anderes Szenario? Was hatte es mit dem Zweit- oder Mehrfachtäter auf sich, da immerhin 86 von 216 Befragten einen weiteren Tatbeteiligten gesehen haben wollten? Wer wusste hier was, wieviel, woher? Wer absolvierte mit Steinhäuser die Kampfausbildung? Wer kannte die Tatwaffe vorher?  

Nach heftigem Hin und Her über anderthalb Jahre meinte der neue Ministerpräsident Dieter Althaus im Januar 2004: "Zu Gutenberg ist alles gesagt. Der Fall ist geklärt." Große Worte. Ihnen folgte öffentlicher Einspruch direkt auf den Fuß und zwar so deutlich, dass daraufhin die sogenannte Gutenberg-Kommission unter Leitung des damaligen Justizministers und ausgewiesenen Trouble-Shooters Karl Heinz Gasser eingesetzt werden musste. Ihre Kompetenz? Auf jeden Fall keine staatsanwaltliche. Das Ganze war juristisch betrachtet ein Placebo. Die Kommission durfte noch einmal drehen und wenden, was aus den Erstermittlungen schon bekannt war.

Aber wozu das Ganze? Es erfüllte die Funktion, die Verantwortlichen bei Polizei, Justiz, Verwaltung, Schulverwaltung und Politik aus der Schusslinie zu manövrieren, und die Strafanzeigen der Angehörigen wegen unterlassener Hilfeleistung abzuwatschen. Der Landesregierung des Freistaats Thüringen ging es darum, die Erfurter Mordserie außerhalb des Justiziablen zu halten. Verschwörungstheorie oder Vertuschungsstrategie? Was spielte hier zusammen?

Der Osten kämpfte mit schweren Wachstumsrissen

Der postpolitische Raum im Osten hatte gut zehn Jahre nach dem Mauerfall längst mit schweren Wachstumsrissen zu kämpfen. Im Thüringen stößt man dabei immer auf dieselben Namen: Bernhard Vogel, Jahrgang 1932, Karl Heinz Gasser, Jahrgang 1944, Manfred Ruge, Jahrgang 1944, Richard Dewes, Jahrgang 1948, Dieter Althaus, Jahrgang 1958. Drei Männer aus dem Westen, zwei aus dem Osten. Fünf Einheitsmacher. Im Nachwende-Thüringen: Ministerpräsidenten, Innenminister, Justizminister, Oberbürgermeister. Kriegskinder, Nachkriegskinder, Mauerkinder.  

Manfred Ruge: Erfurter Oberbürgermeister von 1990 bis 2006. Zu den Hintergründen der kalabrischen 'Ndrangheta in seiner Stadt befragt, äußerte er in der ZDF-Dokumentation "Im Netz der Mafia" von 2008: "Überlegen Sie mal, Sie sitzen an einem Schreibtisch als Oberbürgermeister und haben einen Packen voll Probleme, also wirklich Rucksäcke voll. Und da kommt jemand und sagt: Ich nehme Ihnen die Last ab. Wir machen das, wie Sie es haben wollen. Na, da sind Sie doch glücklich." Schon 2000 schrieb das BKA: "1996 wurden mehrere Restaurants in Erfurt eröffnet. Als Geschäftsführer wurden nur Personen eingestellt, die entweder verwandt oder Mitglieder des Clans sind."

Nachdem bekannt geworden war, dass Mafiamitglieder ganze Straßen von Erfurt angekauft hatten, entgegnete Ruge, dass auf der Stirn der Männer ja nicht geschrieben stand, aus welcher Organisation sie kamen. Nur wieso konnte solch eine durchgepokerte Unbedarftheit politisch durchgehen, zumal "Der Spiegel" bereits im Februar 1997 auf den speziellen Demokratiestil des Bürgermeisters hingewiesen hatte? Damals ging es darum, dass Ruge dem Onkel seiner Frau fast 50.000 Mark Entschädigung für ehrenamtliche Beigeordnete zukommen haben lassen soll, auf die er keine Ansprüche gehabt habe.

Amok ist ein Echo-Phänomen

Was Thüringen angeht, lassen sich Korruptions-, Mafia-, Dekadenzgeschichten aller Couleur aus dieser Zeit in Endlosschleife erzählen. Der strategisch so günstig liegende Freistaat mauserte sich spätestens ab Mitte der neunziger Jahre zur politischen Waschmaschine irritierender Interessen, zu einer zunehmend rechtsfreien Zone, in der es Usus wurde, dass irgendwann jeder von etwas anderem schwieg. Man beäugte die Spezialinteressen des anderen, ahnte, wusste und schaute weg. Bemerkenswert dabei: der dekadente Machtstil von Westpolitikern im Osten ließ in seinem unüberhörbaren Schweigen andere Sachverhalte aus als der Entgrenzungsstil ostdeutscher Neupolitiker.

Der Todesgang von Robert Steinhäuser an seinem Gymnasium ein "Unheil, das vom Himmel fiel"? Wohl kaum. Politfilz ist Politfilz. Mord ist Mord. Dabei geht es nicht darum, Gewalttätigkeit abzunicken. Aber der Zusammenhang von Politik und Gewalt wie im Fall Gutenberg lässt nicht zu, das Phänomen Amok zu einer Geschichte von Outsidern zu machen. Amokschützen sind keine Dämonen, Todesengel, Monster. Sie kommen nicht von außerhalb. Sie sind absolute Insider. Sie hocken im Herzen unserer Gesellschaft, vor ihren schnellen Computern. Sie sprechen nicht, sondern halten irgendwann mit ihren Knarren in die Tabus der Gesellschaft hinein. Woher sie die kennen? Aus ihrer eigenen Not. Und das Töten? Es garantiert ihnen ein Maximum an Resonanz. Sie suchen den extremen Schauplatz, um sich endlich zu spüren, um ihr Leben, das bisher ohne jede Resonanz verlaufen war, wenigstens einmal verlassen zu können. Bis sie losgehen, um zu morden, sind sie auf niemanden getroffen, der sie hätte halten können. Amok ist ein Echo-Phänomen. Wo sonst kreuzen sich Wirkliches und Unwirkliches so dicht wie im Töten?

Zehn Jahre seit Erfurt bedeuten: zehn Jahre effizientes Training an der virtuellen und realen Waffe. Die jungen Täter leben mit ihren abstrakten Internet-Vätern, unerreichbar und abgekoppelt. Sie haben alle einen hohen IQ, sind aber schulische Minderleister. Diese Jungs werden durchweg an ihren Schulen handfest gemobbt, koppeln sich ab, driften weg ins Internet, in ihre Schläferepisode. Lehrer und Schulpsychologen sprechen alarmiert von den veränderten Psychen ihrer Schüler. Durch Spiele wie "World of Warcraft" sei eine ganze Generation am Kippen, weil suchtkrank. Aufgrund des virtuellen Dauerkonsums seien tausende Todesszenarien in den Köpfen der Schüler, sagen sie. Gewalt werde immer jünger. Dabei gehe es nicht darum, den Computer abzuschaffen, betonen die Lehrer, sondern darum, Empathie neu zu erlernen, regelrecht zu trainieren. Und darum zu begreifen, dass man mit dem Phänomen Amok nicht mehr wie vor zehn Jahren umgehen könne.

Immer mehr Schüler haben mit sich und der Welt Probleme

Susanne H. war Lehrerin am Erfurter Gutenberg-Gymnasium und hat mittlerweile eine Moderationsausbildung absolviert. Sie resümiert: "Demokratische Schule, frei Persönlichkeit, umfassende Bildung – das ganze Pädagogik-Bla-Bla. Nee, nicht mit mir. Mich interessiert nur noch, was am Ende rauskommt, was also die Inhalte sind, und wo der Schüler sein Problem hat. Das hätte ich vor zehn Jahren sicher nicht gesagt, aber heute denke ich: Den Kindern wird von vornherein zu viel abgenommen. Sie sind trainiert darauf zu insistieren, bestehen auf ihren Wünschen und bekommen sie auch erfüllt, ohne jede Bedingung. Computer, Playstation, Gameboy, iPhone – alles geht. Das Leben eines Kindes definiert sich von Beginn an übers Materielle. Das ist so. Es hat keinen Sinn, das zu leugnen. Wir müssen uns dem stellen. In meinen Augen ist Schule nichts anderes als eine Frage der Konsequenz. Natürlich geht es um Räume für sie, aber auch um Grenzen und darum, Schülern Verantwortung abzuverlangen."

Ist das anders als vor zehn Jahren? "Mal so gesagt", antwortet Susanne H.: "Unterricht war immer da, aber heute kommt das Soziale dazu. Das heißt, der Prozentsatz von Schülern, die mit sich, den Eltern und der Welt Probleme haben, ist enorm gestiegen. Wir haben individuell schwierigere, ich sage, verhaltensoriginelle Kinder. Dafür brauchen wir Zeit. Das ist, was uns fehlt."  

Susanne H. berichtet von taktierenden Schülern, Cyber-Mobbing, Kompetenzbögen und der mangelnden Fähigkeit von Lehrern, auf den Zeitgeist zu reagieren. "Es bräuchte viel mehr systemische Beratung. Klar, es gibt viele gute Projekte und Initiativen, aber nichts wird koordiniert. Am großen Schulschiff kann jeder ein bisschen mitbasteln. Eine wirkliche Konsequenz auf das Gutenberg-Desaster? Nein, das sehe ich nicht."