Der globale Boom des Pfingstchristentums

Der globale Boom des Pfingstchristentums
Gut einhundert Jahre nach ihrem Aufbruch ist die Pfingstbewegung zur weltweit zweitgrößten christlichen Konfession angewachsen, insbesondere in den Ländern des Südens. Doch auch in Deutschland gibt es viele Pfingstgemeinden. Was unterscheidet sie von evangelischen Landeskirchen und Freikirchen? Ein historischer und theologischer Überblick.

Ein gewaltiges Erdbeben, das am 18. April 1906 die Stadt San Francisco zu großen Teilen zerstörte, ließ auch das 500 Kilometer entfernte Los Angeles erzittern. Dort hatte vier Tage zuvor ein schwarzer Prediger namens William J. Seymour auf der Kanzel gestanden und in flammenden Farben das Strafgericht Gottes ausgemalt, das die Erde erzittern lassen würde. Im Nachhinein erschienen seine Worte als eine erfüllte Prophezeiung.

Wie ein Lauffeuer sprach sich herum, dass Gott in Seymours Gemeinde in der Azusa Street von Los Angeles Zeichen und Wunder wirke - wie bei der Ausgießung des Heiligen Geistes am Pfingstfest in Jerusalem. Und weil das Erdbeben von San Francisco eines der ersten globalen Medienereignisse war, wurde auch die prophetische Gabe des William J. Seymour weltweit bekannt.

Aus der Azusa Street in alle Welt: Die Pfingstbewegung

Seymours Gemeinde erlebte ein ungeheures Wachstum, das jahrelang anhalten sollte. Schon nach wenigen Tagen sprach man von der "Azusa Street-Erweckung". Missionare aus ganz Nordamerika, ja aus aller Welt, kamen nach Los Angeles. Bald verbreiteten sie die Frömmigkeit der Seymour-Anhänger in alle Himmelsrichtungen. Bereits 1907 schwappte die erste Welle nach Deutschland hinein. Weitere sollten folgen. Doch wofür stand diese "pfingstlerische" oder "pentekostale" Bewegung überhaupt? Und wofür steht sie heute?

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Die Gemeinde in der Azusa Street und die aus ihr hervorgehende Pfingstbewegung entstammt dem großen Strom der puritanischen Heiligungsbewegung. Zwei Dinge jedoch unterscheiden sie von anderen Evangelikalen und Freikirchen: Zum einen beteten hier die sonst getrennten Schwarzen und Weißen schon 1906 gemeinsam. Die Erweckung zu "neuen Menschen" machte alle gesellschaftlichen Trennungen nachrangig.

Zum anderen lehrte William J. Seymour seine Gemeinde, was er von seinem Lehrer Charles Fox Parham gelernt hatte: Wichtiger als die Wassertaufe sei die so genannte Geisttaufe – ein umstürzendes Ereignis im Leben eines jeden "Heiligen", das sich in der Gabe der Zungenrede äußere. Mitten im Gottesdienst, aber auch daheim oder während der Arbeit, könne es plötzlich geschehen, dass der Heilige Geist den Gläubigen derart verzücke, dass er in unbekannten Sprachen zu stammeln beginne.

Zungenrede "so normal wie das Atmen"

Diese schon im Neuen Testament erwähnte ekstatische "Rede in Zungen" (Glossolalie) war für Parham die notwendige Bedingung und ein untrügliches Zeichen der Geisttaufe. Sie sei zwar ein unverfügbares Gottesgeschenk, könne aber von Gott erbeten werden, lehrte der Vater der Pfingstbewegung.

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Bis heute wird der Heilsweg von vielen Pfingstchristen als Dreischritt erlebt: von der Bekehrung über die Heiligung bis hin zur Taufe mit dem Heiligen Geist. "Die meisten von uns haben die Geisttaufe erfahren. Bei mir war das im Alter von 17 Jahren", erzählt Reimer Dietze, pfingstlerischer Pastor und Theologie-Dozent an der Bibelschule Beröa bei Darmstadt. "Ich habe damals darum gebetet, dass mir diese Erfahrung geschenkt wird. Und dann habe ich es im Gebet erlebt: Ich äußerte mich plötzlich in Lauten, die ich nicht kannte und spürte einen intensiven Austausch mit Gott."

Heute ist das Zungenreden für Reimer Dietze eine normale Lebensäußerung im Umgang mit Gott: "Ich kann jederzeit in Sprachen reden, sei es beim Autofahren oder beim Arbeiten. Es ist für mich so normal wie Atmen." Dennoch demonstriert Dietze diese Erfahrung nicht vor anderen, denn sie ist für ihn "etwas Heiliges und Intimes zwischen Mensch und Gott".

Größter Konflikt mit der EKD: Die Ablehnung der Säuglingstaufe

Reimer Dietzes Gemeinde gehört zum "Bund Freikirchlicher Pfingstgemeinden" (BFP) in Deutschland. Dessen Mitgliedsgemeinden sind organisatorisch und theologisch weitgehend selbständig. Ein Drittel davon sind Gemeinden pfingstlerischer Einwanderer aus aller Welt, seien es Russlanddeutsche, Nigerianer, Koreaner oder andere.

Entsprechend plural sind die Gottesdienstformen. Dennoch gibt es einige verbindende Charakteristika: "Bei uns gibt es keine vorgegebene Liturgie, denn wir wollen für spontane Impulse des Heiligen Geistes offen sein", sagt Reimer Dietze. So gehören zu einem pfingstlerischen Gottesdienst neben Lobpreismusik und Wortverkündigung auch spontane Glaubenszeugnisse und Lebensberichte einzelner Gläubiger. Und manchmal auch die ekstatische Zungenrede. Gebetet wird oft mit erhobenen Armen.

Vollmitglied werden die Anhänger durch die Erwachsenentaufe - eine Wassertaufe, nicht zu verwechseln mit der Geisttaufe, die meist später erfolgt. "Die Säuglingstaufe wird von unseren Gemeinden in der Regel nicht als gültig anerkannt, wie bei den Baptisten", sagt Dietze. "Wir wollen, dass jeder sich im religionsmündigen Alter selbst entscheiden kann." Bei dieser Frage gebe es bisher noch den größten Dissens mit der EKD und ihren Landeskirchen.

Drei Wellen der Pfingstbewegung

Mit circa 50.000 Vollmitgliedern in etwa 700 Gemeinden ist der BFP der größte Verband innerhalb der klassischen Pfingstbewegung in Deutschland. Insgesamt wird die Zahl der Pfingstchristen hierzulande auf etwa 300.000 geschätzt. Das ist nicht viel, vergleicht man es mit Zahlen aus Amerika, Asien oder Afrika. Weltweit gibt es je nach Definition 200 bis 600 Millionen Anhänger.

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Schon in den 1960er Jahren hatte die Pfingstbewegung einen zweiten Aufschwung erlebt, als sie die "Charismatische Bewegung" innerhalb der  etablierten Kirchen auslöste: In der römisch-katholischen Kirche wie auch in den protestantischen Großkirchen fanden sich charismatische Zellen zusammen und erprobten einen gabenorientierten Gemeindeaufbau.

In den 1980er Jahren begann eine dritte Welle, die bis heute anhält und die Pfingstbewegung weltweit zur zweitgrößten christlichen Strömung nach dem Katholizismus gemacht hat. Im Unterschied zur "klassischen Pfingstbewegung" der ersten Welle wird diese dritte Welle als "Neupfingstlertum" (Neo-Pentekostalismus) bezeichnet. Denn sie unterscheidet sich in einigen Punkten markant von dem, was bisher als pfingstlerisch galt. 

Megakirchen, Fernsehprediger, Dämonenaustreibungen

Zum einen unterscheidet sich das Neupfingstlertum organisatorisch: Die Neopentekostalen treffen sich weniger in Ortsgemeinden, sondern oft in überregionalen Megakirchen, die sich als "nichtkonfessionell" ("non-denominational") verstehen. In den USA sind dies hochtechnologisierte Hallen, wo sonntäglich tausende Anhänger aus einer Großregion zusammenkommen, um einen show-artigen Gottesdienst mitzufeiern. Auch prominente Fernsehprediger spielen eine bedeutende Rolle.

Vor allem aber in ihrer Theologie und Glaubenspraxis unterscheiden sich die "Neupfingstler" von den klassischen Pfingstchristen: "Der klassische Dreischritt Bekehrung – Heiligung – Geisttaufe rückt in den Hintergrund, denn es geht den Neopentekostalen vor allem um die Befreiung von dämonischer Belastung", analysiert Pfarrer Dirk Spornhauer, Pfingstkirchen-Beobachter für das Konfessionskundliche Institut der EKD. Ein von bösen Dämonen besetzter Mensch oder Ort könne von neupfingstlerischen "Gebetskampf-Gruppen" bei "Heilungsfeldzügen" regelrecht "freigebetet" werden. Das Entweichen des Dämons sei eine Heilungs- und Erlösungserfahrung, auf die idealerweise ein völlig neues, gereinigtes Leben folge.

Neupfingstler gerade in Afrika erfolgreich

Dass das Neupfingstlertum gerade in den Entwicklungs- und Schwellenländern so erfolgreich ist, hat verschiedene Gründe: Zum einen kann die Bewegung flexibel anknüpfen an eingeborene Exorzimus-Traditionen und eine erlebnishungrige Frömmigkeit, gerade auch in Afrika. Wer sich in einem ghanaischen oder nigerianischen Wohnzimmer durchs Fernsehprogramm zappt, wird mehrere Kanäle finden, die nonstop lautstarke Dämonenaustreibungen zeigen.

Ein weiterer Grund für den rasanten Erfolg ist die rigoristische Ethik neupfingstlerischer Prediger. Wenn ein Familienvater im Slum nach seiner "Heilung" aufhört, sich zu betrinken, fremdzugehen oder seine Frau zu verprügeln, manifestiert sich diese Ethik. Damit gibt das Pfingstchristentum seinen Anhängern in einer Zeit von Entwurzelung und Entfremdung Halt und eine neue Identität.