Rehberg-Loccum (epd). Der Politologe Thomas Müller-Färber sieht die USA nicht mehr als verlässlichen Partner für die europäische Sicherheit. „Niemand glaubt mehr wirklich daran, dass die USA mit der Kavallerie über den Atlantik kommen würden, um uns gegen einen Angriff zu verteidigen, aber kaum jemand spricht das aus“, sagte der Studienleiter für Internationale Politik und Internationale Beziehungen an der Evangelischen Akademie Loccum dem Evangelischen Pressedienst (epd).
Derzeit stritten innerhalb der US-Regierung zwei Strömungen gegeneinander, und die der Isolationisten gewinne langsam die Oberhand, erklärte Müller-Färber. Dieser Streit sei auch an dem ständigen Hin und Her in den Verhandlungen über den Ukrainekrieg ablesbar, bei dem die USA mal russische und mal ukrainische Positionen unterstützten. „Dieses Schwanken kommt aus dem Trump-Lager“, sagte der Politologe.
Situation wie vor dem Zweiten Weltkrieg?
Nach Weihnachten starte in den USA der Wahlkampf für die Zwischenwahlen. „Der Streit zwischen beiden Positionen wird sich dann wohl verschärfen“, sagte Müller-Färber, und es sei schwer abzuschätzen, welche sich dann durchsetzen werde. Sollten die Isolationisten gewinnen, bedeute dies wohl das Ende von 80 Jahren Nachkriegsordnung.
Zugleich sehe sich Europa mit einem aggressiven Russland konfrontiert, erklärte er, ähnlich wie die europäischen Staaten vor dem Zweiten Weltkrieg mit einem aggressiven Deutschland konfrontiert waren. „Es könnte sein, dass wir in einer Situation wie 1939 sind - aber diesmal ohne die Amerikaner.“ Dann gelte: „Wir sind gemeinsam mit allen Europäern und den Ukrainern allein.“
Ob die Europäer geeint gegen einen russischen Angriff stünden, ist laut Müller-Färber unsicher. Sollte Russland, etwa im Baltikum, offensiv werden, „wird eine ruppige Diskussion in Europa losgehen, ob wir ihnen nicht das Baltikum lassen“, prognostizierte er. Neben dem Szenario eines Großkriegs seien auch Sabotageakte oder Unterstützung antidemokratischer Kräfte durch Russland denkbar. Das russische Ziel sei die Schaffung eines Europas, das Moskau gewogen sei.
Einfrieren der Front als Maximum des Erreichbaren
Die Europäer seien aber durchaus in der Lage, Russland abzuschrecken, erklärte der Politologe. Eine gemeinsame Verteidigung setze aber eine gemeinsame politische Entscheidungsfindung voraus. Solange die Ukraine sich gegen den russischen Angriff wehren könne, sei die Gefahr für Europa noch nicht akut.
Müller-Färber plädierte dafür, der Ukraine das in Europa eingefrorene russische Vermögen zu übertragen, damit sie ihre Rüstungsindustrie hochfahren könne, die derzeit nur etwa zur Hälfte ausgelastet sei. Dies könne die russische Kalkulation vielleicht so ändern, dass Moskau einen Waffenstillstand akzeptiere. Ein Einfrieren der Front sei „derzeit wahrscheinlich das Beste, was sich auf dem Verhandlungsweg erreichen lässt“, sagte der Politikwissenschaftler.



