Düsseldorf, Jerusalem (epd). Am zweiten Jahrestag des verheerenden Hamas-Angriffs hat der evangelische Propst von Jerusalem, Joachim Lenz, das Bild einer tief verunsicherten und erschöpften israelischen Gesellschaft gezeichnet. Die Bevölkerung sei zwar nicht mehr durch unmittelbare Angst um das eigene Leben geprägt, doch die latente Bedrohung, die ungelösten Konflikte und die fortwährende Gewalt bestimmten weiterhin das Lebensgefühl, erklärte Lenz in einem am Dienstag von der Evangelischen Kirche im Rheinland veröffentlichten Interview. Der Libanon, Syrien, der Iran und vor allem die Hamas würden nicht mehr als akute Bedrohungen wahrgenommen: „Aber der Konflikt ist ungelöst, die latente Bedrohung bleibt.“
Während in Israel eine lebendige Zivilgesellschaft regelmäßig gegen den Krieg auf die Straße gehe, herrschten unter Palästinensern in der Westbank Verzweiflung, Perspektivlosigkeit und große wirtschaftliche Not. Die Hoffnung auf eine nachhaltige Lösung schwinde auf beiden Seiten, sagte Lenz: „Beide Seiten wollen Anerkennung ihres Leids und Verständnis für ihr Handeln. Beide tragen die Traumata von Terror und Krieg mit sich herum. Und sie reden nicht miteinander.“
Beim Terrorangriff der Hamas am 7. Oktober 2023 waren rund 1.200 Menschen in Israel getötet und mehr als 240 in den Gaza-Streifen verschleppt worden. Der Angriff führte zum Krieg zwischen Israel und der Hamas, dem im Gaza-Streifen Zehntausende Menschen zum Opfer fielen. In der ägyptischen Hauptstadt Kairo haben in dieser Woche Gespräche zur Beendigung des Konflikts begonnen.
Der Staat Israel wurde laut Lenz als sicherer Ort für Jüdinnen und Juden angelegt, wo sie mit Menschen auch anderer Religionen in Frieden und Gerechtigkeit zusammenleben wollen: „So hat es die israelische Unabhängigkeitserklärung von 1948 festgelegt.“ Die allermeisten Israelis, die er kenne, „wollen genau das“. In Umfragen werde aber auch deutlich, wie tief die Erbitterung und Sorge nach dem 7. Oktober 2023 in den Seelen sitze. Eine klare Mehrheit der Bevölkerung sei gegen eine Zwei-Staaten-Lösung, das sei vor zwei Jahren noch anders gewesen.
„Der Exodus der christlichen Familien aus dem Heiligen Land hält an“, fügte Lenz hinzu: „Dass es mittel- und langfristig besser wird, wagt kaum jemand zu hoffen. Viele im Lande hofften natürlich, dass die israelischen Geiseln endlich freikommen und der Krieg endet. “Müdigkeit und Aussichtslosigkeit sind gewachsen", bilanzierte Lenz. Der gebürtige Wuppertaler ist als Propst der erste Pastor der Evangelischen Gemeinde deutscher Sprache zu Jerusalem. Zudem ist er im Heiligen Land und in Jordanien Repräsentant der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD).