Frankfurt a.M., Augusta (epd). Mit dem Beschuss der „Ocean Viking“ durch die libysche Küstenwache hat die Gewalt auf dem Mittelmeer laut der Seenotretterin Lucille Guenier ein bisher beispielloses Ausmaß erreicht. „Ihre Absicht war, Menschen umzubringen“, sagte die Kommunikationsverantwortliche an Bord dem Evangelischen Pressedienst (epd) am Mittwoch im sizilianischen Hafen Augusta und rief die EU auf, die Kooperation mit der libyschen Küstenwache sofort zu beenden. Konsequenzen forderte auch die Grünen-Bundestagsabgeordnete Luise Amtsberg.
Die „Ocean Viking“ war nach Angaben der Betreiberorganisation SOS Méditerranée am Sonntag von einem Patrouillenboot der libyschen Küstenwache beschossen worden. Zum Zeitpunkt des Angriffs waren neben der Crew 87 aus Seenot gerettete Geflüchtete an Bord. Die Überlebenden verließen das Rettungsschiff am Montagabend in Augusta. Verletzt wurde demnach niemand.
Sie arbeite seit drei Jahren auf dem Schiff und habe bei Einsätzen viele gewaltsame Eingriffe der libyschen Küstenwache beobachtet, sagte Guenier. „Aber es ist das erste Mal, dass wir hätten sterben können.“ Die libysche Küstenwache habe direkt auf die Fenster der Brücke und damit in etwa auf Kopfhöhe gezielt. Auch die Rettungsboote der „Ocean Viking“ seien unter Beschuss genommen worden. „Es ging nicht bloß um Einschüchterung.“
Laut den Schilderungen der Seenotretterin befand sich die „Ocean Viking“ in internationalen Gewässern in der libyschen Such- und Rettungszone, als sich das Boot der Küstenwache näherte. Die Libyer hätten die „Ocean Viking“ zunächst per Funk zum Verlassen des Gebiets aufgefordert und den arabisch sprechenden Übersetzer beleidigt. Schon als man eingewilligt habe, Richtung Norden abzudrehen, sei schließlich das Feuer für mindestens 20 Minuten eröffnet worden.
Das bei dem Angriff eingesetzte Patrouillenboot wurde nach Angaben von SOS Méditerranée im Jahr 2023 von Italien im Rahmen eines EU-Programms an die Libyer übergeben. Die EU kooperiert seit Jahren mit der libyschen Küstenwache. Das nordafrikanische Land ist eines der wichtigsten Transitländer für Geflüchtete und Migranten auf dem Weg nach Europa.
Die Grünen-Politikerin Amtsberg mahnte einen Kurswechsel der EU an und rief auch die Bundesregierung zum Handeln auf. „Die Bundesregierung muss in Brüssel darauf hinwirken, dass die EU ihre Zusammenarbeit mit der sogenannten libyschen Küstenwache beendet“, sagte die Bundestagsabgeordnete dem epd. Der gezielte Angriff auf das Rettungsschiff sei alarmierend und markiere eine drastische Eskalation, „die die internationale Gemeinschaft keinesfalls hinnehmen darf“.
Auch Seenotretterin Guenier rief die EU auf, jegliche Zusammenarbeit mit der libyschen Küstenwache zu beenden. „Wir erwarten, dass etwas passiert“, sagte sie: „Es muss ein Vorher und ein Nachher geben.“
Ein Sprecher der EU-Kommission hatte am Dienstag gesagt, man habe die libyschen Behörden zwecks Aufklärung kontaktiert. Zu möglichen Folgen äußerte er sich nicht. Mittlerweile hat in Italien die Staatsanwaltschaft im sizilianischen Syrakus eine Untersuchung eingeleitet. Laut übereinstimmenden Berichten italienischer Medien wurde die Spurensicherung der Polizei eingeschaltet. Auch Zeugen sollen befragt worden sein. „Wir müssen rekonstruieren, was passiert ist“, sagte Staatsanwältin Sabrina Gambino der Nachrichtenagentur Ansa.