Thierse: Selbstverwirklichung in Krisenzeit kein guter Maßstab

Thierse: Selbstverwirklichung in Krisenzeit kein guter Maßstab

Berlin (epd). Der frühere Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (SPD) hat angesichts der Bedrohungen durch Kriege und die Klimakatastrophe die Rückkehr zu mehr solidarischen Pflichten gefordert. „Mich irritiert die ideologische Überhöhung und die Heftigkeit von Ablehnung solidarischer Pflichten“, sagte Thierse am Mittwoch bei der Jahrestagung des Deutschen Ethikrats in Berlin und verwies auf Kritik an den Schutzmaßnahmen in der Corona-Pandemie und das Ablehnen der von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier vorgeschlagenen sozialen Pflichtzeit. Sichtbar werde in diesen Reaktionen „ein durchaus problematisches Freiheitsverständnis“, sagte er.

Individuelle Selbstverwirklichung gelte „irgendwie als der höchste Wert unserer Gesellschaft“, sagte Thierse. Diese Form der grundsätzlich begrüßenswerten Individualisierung habe eine problematische Seite. „Die steigenden Selbstverwirklichungsansprüche richten sich gegen die Solidargemeinschaft“, sagte er.

„Es wäre doch gut, wir würden lernen, diesen egozentrischen Freiheitsnarzissmus zu überwinden und begreifen, dass Freiheit und Verantwortung zusammengehören“, sagte Thierse. Freiheit werde ohne die Regeln und Beschränkungen des Solidarischen „zur blanken Rücksichtslosigkeit, zum Recht des Stärkeren“. Individuelle Selbstverwirklichung könne angesichts der Bedrohung durch Krieg und Klimakatastrophe „nicht der einzige Maßstab sein“ für gelingendes Leben, sagte er.

Der Ethikrat hatte seine Jahrestagung unter den Titel „Gelingende Solidarität“ gestellt. Dies sei als „ethisches Statement“ gegen aktuelle Entwicklungen zu verstehen, sagte der Vorsitzende des Rates, Helmut Frister, bei der Eröffnung. Solidarisches Miteinander funktioniere immer weniger, sagte der Jurist. Er verwies auf die Kriege in der Ukraine und im Nahen Osten sowie das „Erstarken politischer Gruppierungen, die Menschengruppen ausgrenzen und zu Sündenböcken machen will“.