Berlin (epd). Bei der Aufarbeitung von sexualisiertem Missbrauch in Heimen gibt es nach Ansicht von Betroffenen sowie Expertinnen und Experten enorme Defizite. Die Betroffenen hätten bislang nicht die Qualität von Anerkennung und Hilfe erfahren, „die dem Leid gerecht würde“, sagte Heiner Keupp von der unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs am Dienstag in Berlin. Das Bemühen um Sichtbarkeit und Unterstützung beschrieb Corinna Thalheim, die im DDR-Jugendwerkhof Torgau Missbrauch erlebt hat, als „Kampf gegen Windmühlen“.
Keupp und Thalheim äußerten sich bei einer öffentlichen Anhörung der Aufarbeitungskommission. Dabei ging es um Menschen, die als Kinder oder Jugendliche in Heimen, Jugendwerkhöfen oder anderen Einrichtungen der stationären Kinder- und Jugendhilfe Opfer sexualisierter Gewalt wurden.
Keupp zitierte Schätzungen, wonach von etwa 700.000 bis 800.000 Betroffenen in der Bundesrepublik und 500.000 in der DDR auszugehen sei. Kommissionsmitglied Silke Gahleitner räumte ein, dass es an einem „systematischen Überblick“ über das Phänomen über alle Einrichtungsarten und Regionen hinweg fehle. Der Gesellschaft insgesamt, aber „vor allem den Trägern“ der Einrichtungen falle es sehr schwer, sich dem Thema zu stellen, fügte Gahleitner hinzu.
Den bisherigen Umgang mit Betroffenen bezeichnete der Psychologe Keupp als „halbe Aufarbeitung“. Er verwies auf den „Runden Tisch Heimerziehung in den 50er und 60er Jahren“ und die beiden vorübergehend eingerichteten Entschädigungsfonds für Betroffene aus der Bundesrepublik und der DDR. Die Informationen darüber hätten viele Betroffene gar nicht erreicht, auch die maximale Auszahlung von 10.000 Euro pro Person sei zu gering gewesen.
Die Kommissionsvorsitzende Julia Gebrande betonte, bei den Vorfällen in den Heimen habe es sich um „massive Menschenrechtsverletzungen“ gehandelt. Sowohl in der Bundesrepublik als auch in der DDR habe es in der Kinder- und Jugendhilfe Strukturen gegeben, „die sexuelle Gewalt ermöglicht und eine Schweigepraxis hergestellt haben, die es verunmöglichte, sexuelle Gewalt zu beenden und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen“.
Die damalige Erfahrung des Ausgeliefertseins wirkt bis heute nach, wie Thalheim berichtete. Es sei äußerst schwer, sich Menschen anzuvertrauen, sagte Thalheim, die heute selbst Betroffene berät. Behördengänge und Gerichtsverfahren könnten „hochtraumatisch“ wirken. Als weitere Probleme nannte Thalheim unter anderem die Schwierigkeit, einen Psychotherapieplatz zu bekommen, und die Tatsache, dass viele Betroffene „am Existenzminimum“ lebten.
Mit Blick auf finanzielle Entschädigung forderten die Kommissionsmitglieder schnelle Klarheit über den Fonds Sexueller Missbrauch, der eigentlich in Kürze auslaufen soll und auf dessen Fortführung sich CDU, CSU und SPD im Koalitionsvertrag geeinigt haben. Keupp empfahl außerdem die Übernahme eines Modells aus Österreich: Dort bekämen Missbrauchsbetroffene aus dem Heim-Kontext einen Rentenaufschlag von 300 Euro im Monat.
Daneben sprach sich Keupp für eine öffentliche Veranstaltung im Bundestag aus. Dabei sollten Betroffene zu Wort kommen und Vertreterinnen und Vertreter von Staat, Kirche und Zivilgesellschaft ihnen zuhören und Verantwortung übernehmen.