Tunis (epd). Ein einzelnes Plakat hängt an einer langen, frisch gestrichenen Mauer. Feinsäuberlich wurde es in das dafür vorgesehene Rechteck geklebt, das die maximal erlaubte Größe der Wahlkampfplakate vorgibt. Unter der Farbe sind noch die Rechtecke vorheriger Wahlen zu erahnen. Doch diesmal gibt es an der Wand in diesem Wahlbezirk in einem bürgerlichen Viertel in Tunesiens Hauptstadt Tunis nur ein Plakat - und nur einen Kandidaten. Da müsse man ja auch nicht mehr wählen gehen, sagt ein Passant schulterzuckend im Vorbeigehen.
Zwar bewerben sich insgesamt mehr als 1.000 Kandidatinnen und Kandidaten um einen Platz im tunesischen Parlament, das am 17. Dezember gewählt wird. Doch in der Öffentlichkeit und den Medien ist der Wahlkampf wenig präsent. In zehn der 161 Wahlkreise gibt es nur einen Kandidaten, in sieben weiteren keinen einzigen.
Dabei wird die Abstimmung, bei der rund neun Millionen Menschen aufgerufen sind, die erste Kammer des Parlaments zu wählen, an einem symbolischen Datum abgehalten. Vor zwölf Jahren, am 17. Dezember 2010, zündete sich der Gemüsehändler Mohamed Bouazizi im zentraltunesischen Sidi Bouzid aus Protest an, nachdem eine Polizistin seine Ware und eine Waage konfisziert hatten. Damit löste Bouazizi zunächst in Tunesien, später auch in anderen Ländern der Region Aufstände und Revolutionen aus.
Lange galt Tunesien danach als Vorreiter bei der Demokratisierung. Doch vor etwa eineinhalb Jahren ließ Präsident Kais Saied den Notstand ausrufen und riss weite Teile der Macht an sich. Nach dem Verfassungsreferendum vom 25. Juli sind die Parlamentswahlen ein weiterer wichtiger Schritt in seinem Plan, das politische System nach seinen Vorstellungen zu verändern.
So werden im Gegensatz zu früher nach der neuen Verfassung und einer damit einhergehenden Wahlrechtsreform ausschließlich einzelne Kandidaten direkt gewählt. Durch die Abschaffung der Listenwahl werden die Parteien geschwächt, die Saied in der Vergangenheit mehrfach für politische Blockaden und Krisen verantwortlich gemacht hat. Außerdem werden im neuen Parlament deutlich weniger Frauen sitzen als früher. Bisher mussten die Listen paritätisch von Frauen und Männern besetzt werden. Nach Abschaffung der Listenwahl liegt der Frauenanteil unter den Kandidierenden in diesem Jahr lediglich bei 15 Prozent.
Wie schon das Referendum im Juli boykottieren die meisten größeren Parteien die Parlamentswahlen, die sie als nicht legitim ansehen. In der neuen Verfassung habe das Parlament keine Bedeutung und könne den Präsidenten nicht wirklich kontrollieren, erklärte Ali Larayedh, Führungsmitglied der konservativen Ennahdha-Partei und ehemaliger tunesischer Innen- und Premierminister. „Das Parlament ist nur eine Fassade, die Kais Saied einen Anstrich von Legitimität verleiht.“ Die meisten Kandidierenden sind parteilos oder gehören der Echaab-Bewegung an, der einzigen größeren Partei, die den Präsidenten unterstützt.
In den Medien ist der Wahlkampf ebenfalls wenig präsent. Das liegt auch daran, dass die meisten Kandidierenden wenig Geld zur Verfügung haben und die Auflagen zur Wahlkampffinanzierung streng sind. Zusätzlich verunsichert ein Konflikt zwischen der unabhängigen Medienaufsichtsbehörde Haica und der Wahlbehörde Isie, deren Mitglieder inzwischen direkt vom Präsidenten ernannt werden, viele Journalistinnen und Journalisten. Weil beide Behörden jeweils eigene Regeln aufgestellt haben, wissen sie nicht mehr, was gilt. So verbietet die Wahlbehörde etwa unter Androhung strafrechtlicher Verfolgung den Kandidierenden, mit ausländischen Medien zu sprechen. Tunesische Medien müssen demnach unter notarieller Aufsicht auslosen, welche Kandidatinnen und Kandidaten in ihren Programmen zu Wort kommen dürfen.
Angesichts der schon beim Referendum im Juli vergleichsweise niedrigen Wahlbeteiligung wird in Tunesien vor allem beobachtet, wie viele Menschen ihre Stimme abgeben werden. Dies wird entscheidend dafür sein, welche Legitimität das Parlament an sich, aber auch der Präsident für sein politisches Projekt beanspruchen kann.