Hirnforscher zu Klimaprotesten: Deutsche für "sanfte Revolution"

Hirnforscher zu Klimaprotesten: Deutsche für "sanfte Revolution"
07.11.2022
epd
epd-Gespräch: Dieter Sell

Bremen (epd). Die Klimaaktivisten der „Letzten Generation“ generell zu verteufeln, wäre aus Sicht des Bremer Neurobiologen und Philosophen Gerhard Roth falsch. „Ihre Ziele sind ja absolut ehrenwert“, sagte der Hirnforscher dem Evangelischen Pressedienst (epd). Man müsse ihnen jedoch beibringen, dass ihre Aktionen psychologisch das Gegenteil von dem bewirkten, was sie beabsichtigten. „Die Deutschen träumen nun einmal von einer sanften Revolution.“

„Man kann das mathematisch so ausdrücken: Dieselbe Menge an Veränderungsenergie kann plötzlich in einem lauten Knall losgehen, was meist unwirksam ist“, sagte Roth und ergänzte: „Oder eben zeitlich gestreckter, was psychologisch wirksamer ist, vorausgesetzt man behält den Schwung bei.“

Selbstverständlich gehöre zu den Schock-Kämpfern ein Elitedenken und ein Sendungsbewusstsein, verdeutlichte der Wissenschaftler. „Nämlich die Überzeugung, wir sind die Einzigen, die noch wissen, was zu tun ist - alle anderen sind Weicheier. Das führt auch zu der bekannten Haltung, dass der Zweck die Mittel heiligt. Radikalität des Denkens und Handelns ist immer auch ein Mittel zur Selbstverherrlichung, Teil eines Ego-Trips.“

Radikale Aktionen erregten zwar große Aufmerksamkeit, aber meist gingen sie „nach hinten los“, führte Roth aus. Eine Mehrheit, die an Ruhe und Ordnung interessiert sei und glaube, eine Revolution müsse immer behutsam vor sich gehen, fühle sich angewidert bestätigt von den „Rabauken“. „Sie diskreditieren natürlich auch diejenigen, die zwar nachdrücklich, aber doch etwas behutsamer vorgehen.“

Aus hirnphysiologischer Sicht erläuterte Roth, beim Menschen gebe es eine tief verwurzelte Tendenz zum „Weitermachen wie bisher“. Das Festhalten an Gewohnheiten werde vom Gehirn durch das Ausschütten von Belohnungsstoffen verstärkt. „Das dämpft Änderungs- und Zukunftsängste, die gerade in Deutschland stark verbreitet sind.“ Deshalb werde auch von „lieben Gewohnheiten“ gesprochen. Die allerdings seien mit Blick auf die Klimakrise fatal.

Jeder Aufruf zur Verhaltensänderung müsse deshalb eine Belohnung in Aussicht stellen, die größer sei als durch das „Weitermachen wie bisher“. Am längsten wirke die mit sozialer Anerkennung verwobene intrinsische Belohnung, „die Freude am Gelingen“. Bürgerinnen und Bürger müssten sofort erkennen können, dass es um sie gehe - und was sie persönlich davon haben. „Es geht um kleine Schritte, um glaubwürdige Vorbilder.“ Überdies müssten gerade in Krisensituationen Ohnmachtsgefühle bekämpft werden wie „es ist zu spät, wir können ja doch nicht mehr machen“.