Protestforscher: Ukraine-Krieg überschattet alles andere

Protestforscher: Ukraine-Krieg überschattet alles andere
27.06.2022
epd
epd-Gespräch: Bettina Gabbe

Berlin (epd). Der Berliner Soziologe Dieter Rucht sieht eine Vielzahl von Gründen für die unerwartet geringe Beteiligung am Protest gegen den G7-Gipfel auf Schloss Elmau. Das Thema Ukraine sei absolut dominant und überschatte alles andere, sagte der Protestforscher dem Evangelischen Pressedienst (epd) am Montag in Berlin. „Wir haben einen zentralen Konfliktherd, und im Schatten dessen ist es schwierig, viel Aufmerksamkeit zu erzeugen“, fügte der Experte für soziale Bewegungen hinzu.

Anstatt der erwarteten 20.000 Menschen hätten sich faktisch nur 5.000 Personen an den Protesten beteiligt. „Das ist doch eine sehr kleine Veranstaltung im Vergleich zu dem, was man früher gesehen hat“, sagte Rucht unter Hinweis auf die Zahlen, die Veranstalter und Polizei für die Großdemonstration am Samstag in München angegeben hatten. Die G7-Staats- und Regierungschefs beraten seit Sonntag drei Tage lang in Oberbayern.

Rucht sagte, die Regierenden hätten derzeit ein weniger negatives Image als früher. Er führt diesen Umstand darauf zurück, dass relative Einigkeit bei den Maßnahmen gegen Russland bestehe. Derzeit sei Krisen-Management gefragt und weniger scharfe Kritik an den Regierenden.

Überdies beobachtet der Soziologe eine Schwächung der globalisierungskritischen Bewegungen. Diese seien in den vergangenen Jahren zunehmend „zerfallen und fragmentiert“. Beim G7-Gipfel auf Schloss Elmau im Jahre 2015 seien die Bewegungen noch stärker gewesen.

Eine Rolle spielt laut Rucht auch die Corona-Pandemie. Potenzielle Teilnehmer an den Protesten schrecken demnach vor dem Infektionsrisiko unter anderem in überfüllten Zügen zurück. Eine starke Polizeipräsenz mit 1.800 Einsatzkräften und Maßnahmen im Vorfeld wie Grenzkontrollen, hätten ebenfalls zu einer im Vergleich zu früheren Gipfeln geringeren Beteiligung an den Protesten geführt. In Genua seien beim G8-Gipfel im Jahre 2001 noch 300.000 Protestierende auf die Straße gegangen, sagte Rucht.

Beim G8-Gipfel von Heiligendamm 2007 sei die globalisierungskritische Bewegung relativ stark gewesen. Damals habe überdies ein großes Misstrauen gegenüber den Führungseliten bestanden. Dieses sei nicht verschwunden, aber damals sei im Rahmen einer Anlaufphase von zwei Jahren für die Proteste mobilisiert worden. Der Gipfel von Schloss Elmau sei erst ein halbes Jahr zuvor angekündigt worden.