Herrnhut feiert 300-jähriges Jubiläum

Herrnhuter Freikirche
© epd-bild/Nikolai Schmidt
Rund 6.000 Einwohnerinnen und Einwohner hat Herrnhut heute. Die Mitglieder der Freikirche besuchen die frisch renovierte Kirche im Ortszentrum.
Stadt mit christlichen Wurzeln
Herrnhut feiert 300-jähriges Jubiläum
Es waren protestantische Flüchtlinge aus Mähren, die 1722 das ostsächsische Herrnhut gründeten. Die freikirchliche Brüdergemeine - bekannt für die Herrnhuter Sterne - prägt den Ort bis heute. Ein Besuch bei Einheimischen und Zugezogenen.

Die 25 Zacken der Herrnhuter Weihnachtssterne sind weltberühmt. Die Herrnhuter "Losungen", ein Andachtsbuch der evangelischen Brüdergemeine, erscheint in mehr als 60 Sprachen. "Echte Herrnhuter" - das sind aber vor allem die Menschen, die dem Ort zwischen Löbau und Zittau die Treue halten, zugezogen oder zurückgekommen sind.

Stadtzentrum ist bis heute das barocke Gebäudeensemble rund um den Kirchensaal von 1756/57. Die weißen und gelben Bürgerhäuser geben dem Ort einen besonderen Glanz. Die roten Dächer sind als Mansarde ausbaut.

Rund 6.000 Einwohnerinnen und Einwohner hat Herrnhut aktuell - inklusive der eingemeindeten umliegenden Dörfer. Den Ort, der 1929 Stadtrecht erhielt, gründeten vor 300 Jahren protestantische Glaubensflüchtlinge. Sie flohen während der Gegenreformation aus Mähren nach Sachsen, der junge Reichsgraf Nikolaus Ludwig von Zinzendorf stellte ihnen Land zur Verfügung. Im 18. Jahrhundert entstand auch die Brüdergemeine, eine evangelische Freikirche mit heute weltweit rund 1,2 Millionen Mitgliedern.

Am 17. Juni 1722 soll der Zimmermann Christian David den ersten Baum für den neuen Ort Herrnhut gefällt haben. Das Datum wird seither als Gründungstag begangen, in diesem Jahr zum 300. Mal. Zum Jubiläum planen Stadt und Brüdergemeine zahlreiche Veranstaltungen.

Am 17. Juni 1722 soll der Zimmermann Christian David den ersten Baum zum Aufbau von Herrnhut gefällt haben. David liegt auf dem Friedhof "Gottesacker" begraben.

Friderike Verbeek wird mittendrin sein. Sie ist gebürtige Herrnhuterin und ließ sich 1992 als Zahnärztin in der Stadt nieder. Sie empfängt ihre Patientinnen und Patienten im ältesten Haus im Ort. Das Gebäude von 1727 steht gleich hinter dem Kirchensaal der Brüdergemeine, deren aktives Mitglied sie ist.

Verbeek studierte in Greifswald, arbeitete in Löbau und später im bayerischen Landshut. Zurückgekommen sei sie wegen der "Vertrautheit" des Geburtsortes. Zudem betont die 57-Jährige: "Ich bin eine totale Landratte". Es gebe viel Natur, auch eine gute Infrastruktur und sogar Kulturangebote, aber keinen Verkehrsstau. "Die Lebensqualität finde ich auf dem Land besser", sagt sie, "wenn ich Lust auf Großstadt habe, fahre ich nach Dresden".

Die Herrnhuterin Friderike Verbeek vor ihrem Haus in Herrnhut.

Seit Jahren engagiert sich Verbeek im Förderverein für den Friedhof der Brüdergemeine, der "Gottesacker" genannt wird. Die barocke Parkanlage am Fuße des Hutberges ist seit 1730 Begräbnisplatz. Etwa 6.000 Gräber gibt es bisher. Geld braucht der Verein untern anderem für den Erhalt der 250 Jahre alten Linden.

Herrnhut ist wirtschaftlich, kulturell und gesellschaftlich von der Brüdergemeine geprägt, die heute mit rund 800 Mitgliedern in der Minderheit ist. Mehrere Unternehmen gingen aus ihr hervor - allen voran die Herrnhuter Sterne GmbH, die 2021 rund 780.000 Sterne produzierte. Aber auch die Textildruckfirma Dürninger, 1747 gegründet, erlangte überregionale Berühmtheit.

Die Herrnhuter Sterne Manufaktur produzierte 2021 rund 780.000 Sterne.

Davon erzählen kann deren ehemaliger Geschäftsführer Hans-Michael Wenzel. Auch er ist "echter Herrnhuter", wurde 1944 in der Stadt geboren. Als Kind der Brüdergemeine blieb ihm in der DDR das Abitur verwehrt. Deshalb begann er 1959 eine kaufmännische Lehre bei Dürninger. Später wurde er Produktionsleiter der Firma, holte Abitur und Studium nach und war schließlich von 1989 bis 2009 Dürninger-Geschäftsführer.

In den 1980er Jahren ließ der Textilfachmann und Ingenieur Lesezeichen mit der politisch brisanten Botschaft "Schwerter zu Pflugscharen" auf Vlies drucken. Die Idee kam vom sächsischen Jugendpfarrer Harald Bretschneider. Weil Wenzel zur Herstellung kein Papier verwendete, brauchte er keine Druckgenehmigung - zumindest dachte er das. Schon bald wurden die Herrnhuter Lesezeichen zum Symbol der kirchlichen Friedensbewegung, das Jugendliche in der DDR auf ihre Jacken nähten.

Der Herrnhuter Hans-Michael Wenzel  wurde 1944 in der Stadt geboren.

"Wir haben gedacht, es ist ein ganz normaler Auftrag, machen wir mal Lesezeichen", erinnert sich Wenzel. Allerdings missfiel das Friedenssymbol der Staatssicherheit. Bei einer Razzia beschlagnahmte sie die Entwürfe und Vorlagen, zugleich wurde Wenzels damaliger Chef vom DDR-Geheimdienst verhört. Die eigentlichen Druckschablonen übersah sie Stasi aber offenbar. Also druckte Dürninger weiter illegal Friedensaufnäher aus Vlies.

Im Rückblick betrachtet sei dies einer der Anfänge der friedlichen Revolution gewesen, sagt Wenzel. Offiziell musste die Firma nach der Razzia sämtliche Drucke genehmigen lassen, auch die Blümchenmuster für Decken, Kissen, Kleider, Krawatten oder Lampenschirme.

Der 78-jährige Wenzel war sein Leben lang aktiv in der Brüdergemeine, unter anderem als Trompeter im Bläserchor. Er wollte sich aber auch außerhalb der Kirchenmauern einbringen, unterstützte das Handwerk vor Ort und war langjähriger Präsident des Herrnhuter Sportvereins.

Davon profitieren nicht zuletzt die jungen Leute in der Stadt, zum Beispiel der 15-jährige Eric Clemens und die 16-jährige Julia Clemens. Die Geschwister gehen ins Evangelische Zinzendorf-Gymnasium. Eric ist im Fußballverein, spielt Badminton und geht gern angeln. Er lernt zudem Trompete und Schlagzeug. An Herrnhut schätzt er die kurzen Wege und die sportlichen Angebote.

Zu Hause teilt er seit kurzem sein Zimmer mit einem jungen Mann, der vor dem Krieg aus der Ukraine geflohen ist. Das sei völlig okay, sagt er. In Herrnhut fehlt es Eric an nichts. Aber um selbstständiger zu werden, würde er schon aus der Stadt weggehen. Das sieht seine Schwester ähnlich. Jedoch wird es ihr schwerfallen, die Heimat zu verlassen, wie sie sagt. Für sie sei Herrnhut "Gemeinschaft und ein freundliches Miteinander".

Die zugezogene Angelika Doliv wurde Mitbegründerin des Fördervereins für den Herrnhuter Kirchensaal.

Ganz anders empfand das Angelika Doliv, als sie vor zwölf Jahren mit ihrem Mann nach Herrnhut kam. Nach einem ersten Besuch in der ostsächsischen Provinz habe sie gedacht: "Ich bin nicht böse, wenn das nix wird." Doch es wurde. Anfangs konnte sie nicht heimisch werden. Doch Doliv, die aus Essen stammt und 20 Jahre im Rauhen Haus - einer sozialdiakonischen Einrichtung in Hamburg - gearbeitet hat, lebte sich ein.

Sie wurde Mitglied der Brüdergemeine und später sogar deren Geschäftsführerin. Zudem ist sie Mitbegründerin des Fördervereins für den Herrnhuter Kirchensaal und brachte die Innensanierung voran. Der Saal wurde jetzt nahezu komplett für vier Millionen Euro saniert, die Orgel modernisiert. Allein rund 350.000 Euro an privaten Spenden sind zusammengekommen.
"Ich würde immer sagen, wir sind ein christlicher Ort", sagt Doliv, "und das hängt mit der Gründung zusammen." Zahnärztin Verbeek sieht das etwas anders: "Herrnhut ist ein säkularer Ort, doch alle Zugezogenen wissen, dass wir christliche Wurzeln haben."