Sprachforscher Lobin: Rhetorik der Bundesregierung wird mutiger

Sprachforscher Lobin: Rhetorik der Bundesregierung wird mutiger
07.03.2022
epd
epd-Gespräch: Michaela Hütig

Mannheim (epd). Angesichts des Kriegs in der Ukraine hat in der Bundespolitik nach Ansicht des Sprachforschers Henning Lobin eine mutigere Rhetorik Einzug gehalten. Es gehöre politischer Mut dazu, wenn Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) den russischen Präsidenten Wladimir Putin vor dem Bundestag als „skrupellos“ und „menschenverachtend“ bezeichne, sagte der Direktor des Leibniz-Instituts für Deutsche Sprache dem Evangelischen Pressedienst (epd). Das Gleiche gelte für Äußerungen von Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne), die vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen ihren russischen Kollegen Sergej Lawrow „infamer Lügen“ bezichtigte.

„Solche sprachlichen Mittel der Emotionalisierung und offenen moralischen Verdammung waren in der offiziellen politischen Rhetorik Deutschlands bislang verpönt“, erklärte Lobin. Eine derartige Sprache kennzeichne Stärke, habe aber auch ihren Preis - in diesem Fall, sich in die offene Konfrontation mit der Regierung der Nuklearmacht Russland zu begeben. „Einen solchen Preis ist man in Deutschland bislang nicht zu zahlen bereit gewesen“, sagte der Professor für Germanistische Linguistik an der Universität Mannheim.

Scholz habe sich in seiner Rede von Ende Februar „rhetorisch von seiner Art, oftmals unscharf bleibende, unverbindliche und indirekte Aussagen zu treffen“ verabschiedet, sagte er. Stattdessen habe der Kanzler Putin und dessen Verhalten mit drastischen Worten wie „kaltblütig“ und „infam“ beschrieben und von einem „Angriffskrieg“, einer „himmelschreienden Ungerechtigkeit“ und einem „Unterdrückungsregime“ des russischen Präsidenten gesprochen.

Flankiert habe Scholz dies mit Appellen an Gemeinschaft und Zusammenhalt: „Wir wollen unsere Freiheit sichern“ oder „Wir wissen um die Stärke freier Demokratien“. Diese Rhetorik knüpfe an große Reden des 20. Jahrhunderts an - etwa von US-Präsident Franklin D. Roosevelt oder des britischen Premierministers Winston Churchill während des Zweiten Weltkriegs - , die ebenfalls radikale Politikwechsel markiert hätten.

Baerbock habe dagegen in ihren Reden jeweils auf einen starken emotionalen Einstieg gesetzt und vor den UN etwa über ein im Krieg geborenes Baby gesprochen, erklärte der Forscher - „eine Szene, deren Wirkung man sich nicht entziehen kann“. In ihrer Rede vor dem Bundestag fänden sich ausgeprägte rhetorische Stilmittel wie etwa die sechsfache Wiederholung der Formel „Dieser Krieg ist ein Angriff auf…“. Diese rhetorische Figur kommt laut Lobin in ähnlicher Form auch schon in berühmten Reden der klassischen Antike vor: „Mit ihr wird den Zuhörern eine Botschaft durch beständige Wiederholung regelrecht 'eingehämmert'.“

Die jüngsten bundespolitischen Ansprachen könnten „eine Renaissance der rhetorisch ausgeformten politischen Rede einläuten“, sagte der 57-jährige Direktor des Mannheimer Forschungsinstituts. Bei den Amtsvorgängern von Scholz und Baerbock, Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und Außenminister Heiko Maas (SPD), sei das Niveau der politischen Rhetorik vergleichsweise niedrig gewesen, sagte Lobin: „Hier ist ein merklicher Sprung zu verzeichnen.“