Notfallseelsorge: "Es gibt keine Routine, höchstens Erfahrung"

Diakonie Leipziger Land
Krisenhelfer in der Notfallseelsorge kommen auch bei Unfällen zum Einsatz.
Notfallseelsorge: "Es gibt keine Routine, höchstens Erfahrung"
Jürgen Röhr ist einer von 70 ehrenamtlichen Mitarbeitern der kirchlichen Notfallseelsorge in Berlin. Der ehemalige Polizeibeamte, der einst selbst Betroffener einer seelischen Notsituation war, engagiert sich seit drei Jahren als Krisenhelfer in der Notfallseelsorge, um der "Gesellschaft etwas zurückzugeben". Jürgen Röhr spricht im Interview zum Themenschwerpunkt "Notfallseelsorge" auf evangelisch.de über seine Motivation für die Seelsorge, seine Arbeit vor Ort und die Schwierigkeiten beim Umgang mit Unglücksfällen.
11.05.2012
Cornelius Wüllenkemper

Herr Röhr, was hat sie dazu gebracht, sich in der Notfallseelsorge zu engagieren?

Jürgen Röhr: Bei meiner Arbeit im Polizeidienst bin ich im Jahr 2003 bei einem Amoklauf in Berlin schwer verletzt worden. Ich lag 85 Tage im Koma und bin dem Tod sozusagen nur knapp von der Schippe gesprungen. Für den Polizeidienst war ich danach nicht mehr geeignet, hatte also plötzlich keine Aufgabe mehr im Leben. Das war nicht einfach für mich, und teilweise fühlte ich mich auch von meiner Familie und meinen Freunden nicht wirklich verstanden. Das Erlebnis, dem Tod ganz nah zu sein, und plötzlich ein ganz anderes Leben zu führen als zuvor, das ist für Außenstehende kaum nachzuvollziehen.

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Wie haben sie einen Ausweg aus dieser seelischen Notlage gefunden?
Röhr: Einige meiner Polizei-Kollegen haben damals gesagt: "Mensch, genieß doch die Rente!" Ich habe es aber nicht ertragen, einfach zu Hause zu sitzen und nichts zu tun. Ich hatte das Gefühl, dass ich Hilfe brauchte, um wieder ins Leben zurückzufinden – ich fühlte mich wie ein kaputtes Zahnrad in einer Maschine. Ich habe mich dann einer Selbsthilfegruppe angeschlossen und über mein Erlebnis und die Schwierigkeiten, wieder ein erfülltes Leben zu führen, mit anderen gesprochen. Diese Gespräche und das Gefühl von Menschlichkeit und Verständnis waren unheimlich befreiend für mich. Ich hatte immer stärker das Gefühl, dass ich das, was ich in diesen Gesprächen erfahren habe, auf irgendeine Weise zurückgeben wollte. In einem Jahr habe ich dann mein Zertifikat als Krisenhelfer absolviert und bin seit dem für den Malteser Hilfsdienst im Dachverband der Notfallseelsorge der Evangelischen Kirche in Berlin tätig.

Was genau tun Sie bei Ihrer Arbeit als Notfallseelsorger?
Röhr: Ich kann mich noch gut an meinen ersten Fall vor drei Jahren erinnern: Es ging um eine ältere Dame, die ihren Ehemann als vermisst gemeldet hatte. Der Mann war wenig später in einem anderen Bundesland tot aufgefunden worden. Er hatte sich nach dem Unfalltot seines Sohnes das Leben genommen. Meine Aufgabe war es, gemeinsam mit der Polizei die Todesnachricht zu überbringen.

"Ich kann meinen Teil dazu beitragen, dass die Betroffenen verstehen, dass ihr Leben trotz des Schmerzes, trotz des emotionalen Schocks und trotz der Unfassbarkeit des Geschehenen weitergeht."

Wie sind sie damals vorgegangen?
Röhr: Als Seelsorger hat man ja zunächst immer nur grundsätzliche Informationen zum Einsatz. Wie es konkret aussieht, erfährt man erst, wenn man vor Ort ist. Das ist eigentlich das Schwierigste an unserer Tätigkeit: die totale Ungewissheit zwischen dem Anruf und dem Eintreffen vor Ort. Man weiß nie, was einen erwartet. Vor allem der erste Eindruck ist wichtig: Ist der Betroffene zu einem Gespräch bereit, ist es möglich, menschliche Nähe zu ihm aufzubauen? Es geht darum, die Betroffenen zum Reden zu bringen, den Kontakt zur Außenwelt wieder herzustellen. Dafür ist die erste Stunde nach dem Vorfall besonders wichtig.

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Wie ist das nach einem solchen Schicksalsschlag überhaupt möglich?
Röhr: In dem Fall der älteren Dame, habe ich versucht, über ganz praktische Fragen eine Zugang zu ihr zu bekommen: Wie geht ihr Leben nach dem Verlust ihres Mannes weiter? Was ist für eine Beerdigung zu beachten? Welche Formalitäten kommen auf sie zu? Wie wird die Erbschaft geregelt? Ich kann als Seelsorger das, was passiert ist, nicht ungeschehen machen. Aber ich kann meinen Teil dazu beitragen, dass die Betroffenen verstehen, dass ihr Leben trotz des Schmerzes, trotz des emotionalen Schocks und trotz der Unfassbarkeit des Geschehenen weitergeht.

Wo werden Sie als Notfallseelsorger sonst noch eingesetzt?
Röhr: Wir werden auch bei Evakuationen eingesetzt, zum Beispiel bei Brandkatastrophen oder auch Bombenentschärfungen, um Panikreaktionen zu verhindern. Vor kurzem haben uns die Rettungskräfte von Polizei und Feuerwehr angefordert, als es um einen plötzlichen Kindstod ging, bei dem die Eltern eines drei Monate alten Säuglings seelische Betreuung brauchten. Es stellte sich heraus, dass auch die Polizeibeamtin, die den Todesfall aufgenommen hat, unter einer Art Schock stand, denn auch die Beamten sind ja Menschen wie jeder andere. Ich habe mich dann zunächst um die Eltern gekümmert, die sich durch die Präsenz des polizeilichen Ermittlungsteams plötzlich wie Angeklagte fühlten. Bei dem Tod eines Säuglings ermittelt ja automatisch die Kriminalpolizei, und plötzlich wird der Ort, an dem die Angehörigen einen dramatischen Verlust erleben mussten, zu einem Tatort, an dem die Behörden offizielle Ermittlungen führen – so notwendig und normal das auch ist, bedeutet das für die Hinterbliebenen natürlich eine doppelte Belastung.

"Natürlich denkt man über jeden Einsatz auch später noch nach. Dann hilft es, mit anderen Seelsorgern oder Krisenhelfern über den Einsatz zu sprechen."

Wie gehen Sie als Seelsorger mit der emotionalen Belastung um?
Röhr: Jeder Einsatz ist etwas Neues, bei unserer Tätigkeit gibt es keine Routine, höchstens Erfahrung. Das Gespräch mit den Betroffenen sollte in der Regel nicht länger dauern als zwei Stunden, auch, um gezielt den Aufbau von zu viel persönlicher Nähe zu vermeiden. Danach ist nicht nur das Opfer, sondern auch der Seelsorger wieder allein mit seinen Gefühlen und Gedanken.

Fällt es Ihnen einfach, nach einem Einsatz wider menschlichen Abstand zu gewinnen?
Röhr: Natürlich interessiert es mich persönlich, wie sich ein Fall entwickelt, ob es den Betroffenen den Umständen entsprechend gut geht – darauf muss ich aber verzichten. Natürlich denkt man über jeden Einsatz auch später noch nach. Dann hilft es, mit anderen Seelsorgern oder Krisenhelfern über den Einsatz zu sprechen, zu erzählen, was einen besonders bewegt hat. Wir Seelsorger treffen uns regelmäßig zu gemeinsamen Gesprächen. Und zudem hat jeder von uns nach dem Einsatz ein Recht auf eine persönliche Supervision, das heißt in meinem Fall ein Gespräch mit dem Verantwortlichen der Notfallseelsorge Berlin, der gleichzeitig Pfarrer ist. Bisher habe ich so ein Einzelgespräch aber nicht gebraucht.

Wann ist für Sie ein Einsatz gut verlaufen? Was muss passieren, damit Sie das Gefühl haben, dass ihre "erste Hilfe für die Seele" erfolgreich war?
Röhr: Das kommt ganz darauf an. Im ungünstigsten Falle habe ich die Rolle des Übermittlers der schlechten Nachricht. Die Betroffenen schicken einen dann weg, als ob man selbst eine Mitverantwortung für das Unglück hätte. Manchmal reicht ein einfaches "danke, dass Sie da waren", um zu wissen, dass man seinen Job gut gemacht hat. Oder wenn man den Eindruck hat, die Betroffenen kommen einigermaßen zurecht und haben die Situation angenommen, so dass das Leben erst einmal mehr oder weniger weitergeht, egal wie. Aber auch die Einsatzkräfte von Feuerwehr und Polizei sind uns sehr oft dankbar, wenn wir die Situation emotional begleitet und in einen gewissen Rahmen gebracht haben.