Angehörige: Ein Haus mit gutem Ruf

Angehörige: Ein Haus mit gutem Ruf
Prozess zu Gewalttat am Oberlinhaus fortgesetzt
Im Prozess um den Tod von vier Schwerstbehinderten am Potsdamer Oberlinhaus sind die Zustände in der Einrichtung in den Fokus geraten. Angehörige von Opfern zeichneten nun vor dem Landgericht teils sehr unterschiedliche Bilder von der Situation.

Potsdam (epd). Im Prozess um die Tötung von vier Schwerstbehinderten am Potsdamer Oberlinhaus haben Angehörige von Opfern am Dienstag einander widersprechende Aussagen über die Zustände in der Einrichtung gemacht. Die Nebenklägerin und Mutter eines der Opfer beschrieb die Angeklagte wie die übrigen vor dem Landgericht Potsdam erschienenen Angehörigen als liebevoll und zugewandt. Die Tat sei schwer zu begreifen. Die 52-jährige Angeklagte muss sich wegen Mordes und weiterer Straftaten verantworten.

Auf Klagen über Mangel an Pflegekräften habe es seitens der Leitung geheißen, die Zahl der Mitarbeiter entspreche dem landesweit vorgesehenen Pflegeschlüssel. Wenn die Angeklagte ihren Sohn gepflegt habe, sei sein Zustand gut gewesen, sagte die Nebenklägerin. In der Zeit, die dieser in der Wohnpflege im Oberlinhaus verbrachte, habe es zahlreiche Personalwechsel gegeben. Zwischen 80 und 100 Pflegerinnen und Pfleger hätten sich dort innerhalb von zehn Jahren abgewechselt. Die einzige Pflegekraft, die nicht wechselte, sei die Angeklagte gewesen.

Die Angehörige eines weiteren Opfers erklärte vor Gericht, die Familie habe sich nach dem schweren Verkehrsunfall ihrer Schwester für das Oberlinhaus entschieden, da dieses einen guten Ruf genossen habe und ein christliches Haus gewesen sei. Über die Angeklagte sagte sie: „Ich mochte sie.“

Den Personalmangel, der im Lauf des Prozesses wiederholt Thema war, nannte die Zeugin normal. Ihre andere Schwester, die ebenfalls Pflegerin sei, leide wegen der hohen Belastung durch den Beruf immer wieder an Burnout. Mängel bei der Pflege, die die Familie kritisierte habe, seien abgestellt worden. Nach ihrer Wahrnehmung waren jeweils mindestens vier Pfleger pro Schicht im Einsatz. Kollegen der Angeklagten hatten ausgesagt, es seien häufig nur zwei Pfleger gewesen.

Mehrere Angehörige berichteten von einer Verschlechterung des Pflegezustands ihrer Angehörigen in den Jahren vor der Tat. So sagte der Onkel eines der Opfer aus, er habe seine Nichte bei Besuchen zuletzt nicht mehr im Rollstuhl, sondern in den beiden Jahren vor Ausbruch der Corona-Epidemie nur noch im Bett angetroffen. Der Onkel bezeichnete die Lage in der betreffenden Wohnpflege als „katastrophal“, es sei „kaum jemand da“ gewesen.

Die Schwester eines weiteren Opfers sagte aus, ihr Bruder habe zuletzt nur noch im Bett gelegen und nach Urin gerochen. Für Haare- und Nägelschneiden sowie Ohrenreinigung und Staubwischen im Zimmer ihres Bruders habe sie bei Besuchen selbst sorgen müssen. Sie habe den Eindruck gewonnen, dass „nichts mehr gemacht wird“.

Zuletzt habe sie der Pflegeleitung zwei Wochen vor der Tat mitgeteilt, dass sie mit der Behandlung ihres Bruders nicht einverstanden sei. Über den Tod ihres Bruders habe sie durch die Polizei erfahren. Sie wartete nach eigenem Bekunden vergeblich auf einen Anruf des Oberlinhauses.

Die Gewalttat im Potsdamer Oberlinhaus Ende April sorgte deutschlandweit für Entsetzen. Zum Auftakt des Prozesses berichtete die angeklagte langjährige Mitarbeiterin über ihre psychischen Beeinträchtigungen und Personalmangel in der diakonischen Einrichtung. Die Staatsanwaltschaft geht von einer erheblich verminderten Schuldfähigkeit der 52-Jährigen aus.