Islam-Experte: Gefahr weiterer Anschläge ist groß

Islam-Experte: Gefahr weiterer Anschläge ist groß
03.11.2020
epd
epd-Gespräch: Martina Schwager

Osnabrück (epd). Der Islam-Experte Michael Kiefer sieht nach dem mutmaßlich islamistisch motivierten Anschlag in Wien eine große Gefahr für weitere Terrorattacken radikaler Muslime in ganz Europa. Die Tat müsste durchaus in der Folge der drei Anschläge in Frankreich und dem Anschlag von Dresden in den vergangenen Wochen gesehen werden, sagte Kiefer dem Evangelischen Pressedienst (epd).

Denkbar seien zwei Szenarien: Entweder handele es sich um eine lose Folge von Einzelanschlägen oder - was wahrscheinlicher sei - um eine orchestrierte Aktion ehemaliger Kader der Terrororganisation "Islamischer Staat". In jedem Fall hätten die Attentäter erkannt, dass die Lage durch die Corona-Krise ihnen in die Hände spiele. "Und in jedem Fall ist die Gefahr groß, dass weitere Menschen Anschläge verüben werden", sagte der Wissenschaftler am Institut für Islamische Theologie der Universität Osnabrück.

Der Kontinent befinde sich durch die Corona-Pandemie in einem Krisenzustand, erläuterte Kiefer. Die Gesellschaften seien ohnehin angespannt und verletzlich. "Das ist wie eine Einladung. Da ist die Zeit aus Sicht der Terroristen günstig, ein hohes Maß an Aufmerksamkeit zu erreichen, ein Maximum an Angst und Schrecken zu verbreiten und größtmögliche Spannungen zu erzeugen." Eine Gesellschaft, die in stabilen Zeiten in sich ruhe, sei nur schwer zu verunsichern.

Derzeit seien vor allem die Sicherheitsbehörden gefordert, weitere Attacken möglichst zu verhindern, sagte der Experte. Prävention und Deradikalisierung könnten nur langfristig wirken. Deutschland sei in diesem Bereich mittlerweile gut aufgestellt. Allerdings gebe es noch Nachholbedarf im Strafvollzug. "Wir müssen uns fragen, was machen wir mit radikalen Gewalttätern in den Gefängnissen. Die kommen ja irgendwann wieder raus." Bei dem Attentäter von Dresden, der eine dreijährige Haftstrafe verbüßt habe, sei die Deradikalisierung offensichtlich fehlgeschlagen.

Kiefer wies aber darauf hin, dass Frankreich deutlich stärker mit radikalem Islamismus belastet sei als etwa Deutschland oder Österreich. Das sei auf die Vororte der großen Städte zurückzuführen, in denen überwiegend muslimische Zuwanderer wie in Ghettos lebten. Die sozialen Probleme dort seien jahrelang von den Regierungen nicht angegangen worden. "Das ist ein Nährboden für Radikalisierung. Der Islamismus konnte dort unbemerkt anwachsen."