Rechtsmediziner: Kindesmisshandlung oft schwer zu erkennen

Rechtsmediziner: Kindesmisshandlung oft schwer zu erkennen
22.08.2020
epd
epd-Gespräch: Stefanie Walter

Gießen (epd). Unfall oder Kindesmisshandlung? Nicht nur für das Umfeld, auch für die Rechtsmedizin sei es oft schwierig zu entscheiden, ob Verletzungen durch Unfälle oder eine Misshandlung entstanden sind, sagte der Gießener Rechtsmediziner Reinhard Dettmeyer dem Evangelischen Pressedienst (epd). "Wir stellen immer die Gegenfrage: Könnte es auch ein Unfall gewesen sein?"

Bei Verletzungen in bestimmten Arealen würden die Rechtsmediziner stutzig, etwa am Rücken und auf der Rückseite der Beine. Doppelstriemen entstünden durch Schläge mit dem Gürtel. Auch sogenannte "Brillenhämatome" am Auge seien "immer verdächtig". "Stumpfe Gewalt", zum Beispiel ein Tritt in den Oberbauch, sei bei Kindern am häufigsten und ziehe oft "schlimme Verletzungen" nach sich, sagte Dettmeyer, der Direktor des Rechtsmedizinischen Instituts an der Universität Gießen ist.

An dem Institut ist ein besonderes Projekt angesiedelt: das "Forensische Konsil Gießen" (FoKoGi). Es entstand vor sechs Jahren auf Initiative des Hessischen Sozialministeriums. Gewaltopfer können sich dort untersuchen und die Verletzungen dokumentieren lassen. Die Beweismittel werden für zwei Jahre aufbewahrt, so dass sich die verstrichene Zeit, die für die Bewältigung der Tat notwendig sein kann, nicht nachteilig für das Opfer auswirkt. Ziel sei es, die Verletzungen so gut zu dokumentieren, dass sie später vor Gericht verwertbar sind, erklärte Dettmeyer.

Das "FoKoGi" hat Dettmeyer zufolge Erfolg: Jahr für Jahr suchen mehr Gewaltopfer die Gießener Rechtsmedizin auf, um ihre Verletzungen dokumentieren zu lassen. 320 Personen waren es im vergangenen Jahr, 310 Fälle im Jahr 2018. Es handele sich zu 60 Prozent um Kinder. Hinzu kämen Frauen, die Opfer häuslicher Gewalt wurden, Männer nach tätlichen Auseinandersetzungen sowie - allerdings selten - mutmaßliche Folteropfer aus dem Kreis der Asylsuchenden. Gelegentlich bestehe auch ein Verdacht auf Gewalt gegen pflegebedürftige alte Menschen.

Früher habe man Gewalt gegen Kinder oft als "Familiensache" abgetan, sagte Dettmeyer. Doch mittlerweile seien Ärzte und Mitarbeiter von Jugendämtern erheblich aufmerksamer. Der Gesetzgeber habe ebenfalls viel getan. Es gebe heute nicht mehr Fälle von Kindesmisshandlung als früher, sagt der Forensiker. "Aber wir holen die Fälle aus dem Dunkelfeld heraus."

Im vergangenen Jahr mussten sich die Gießener Rechtsmediziner mit fünf Fällen von Schütteltrauma - bei denen ein Baby durch heftiges Schütteln schwerste Verletzungen wie Hirnblutungen erleidet - befassen, drei davon verliefen tödlich. "Je jünger, umso gefährdeter" seien Kinder, berichtete Dettmeyer.