Zurück im Revier

Zurück im Revier
Der Ruhrpott-Chronist Adolf Winkelmann blickt in der Roman-Verfilmung "Junges Licht" (Ralf Rothmann) melancholisch auf das enge deutsche Arbeitermilieu der 60er zurück. Ein Zwölfjähriger muss seinen Weg ins Leben finden.
10.05.2016
epd
Von Andreas Busche (epd)

Frankfurt a.M. (epd) Der Blick vom Balkon markiert die Begrenzung der Welt des zwölfjährigen Julian Collien (Oscar Brose). Am Horizont zeichnen sich rauchende Fabrikschlote ab, schönste Ruhrpott-Tristesse mit einem Hauch von 60er-Jahre-Sozialromantik. Da drüben arbeitet sein Vater (Charly Hübner) im Bergbau, tagsüber und viel zu oft auch nachts. Die Mutter (Lina Beckmann) ist mit der Erziehung von Julian und seiner jüngeren Schwester Sophie überfordert: Zur Not muss der Kochlöffel herhalten - genau wie in der Schule, wo die katholischen Lehrer die Kinder noch mit dem Rohrstock disziplinieren.

Und weil der Vater abwesend ist und die Mutter in ihrer Rolle wie eine Pflanze eingeht, ist Julian die meiste Zeit auf sich gestellt. Dann bricht er heimlich aus dem Alltagstrott aus und begibt sich auf Streifzüge durch die verrußte Arbeitersiedlung. Sein unschuldiger Blick auf eine Welt, die er noch nicht versteht und die ihm auch niemand erklärt, führt durch Adolf Winkelmanns neuen Film "Junges Licht", mit dem der Ruhrpott-Chronist ("Die Abfahrer", "Jede Menge Kohle") an die Glanzpunkte seiner Karriere anknüpft.

Enge des Milieus

Vom Boom des Wirtschaftswunders ist in der Verfilmung von Ralf Rothmanns gleichnamigem Roman aus dem Jahr 2004 wenig zu spüren. Die Menschen leiden, ohne es zu ahnen, unter der Enge eines Milieus, das Winkelmann mit viel Liebe, Skurrilität und raubeinigem Malochercharme porträtiert. Es ist eine Männerwelt mit klaren Rollenvorstellungen. Die saubere Moral der alten Bundesrepublik zwischen Arbeit, Familie und Kirche hat aber eine Kehrseite, die in "Junges Licht" gelegentlich durchscheint.

Da ist etwa die 15-jährige Nachbarstochter Maruscha (Greta Sophie Schmidt), die mit ihren Lolita-Avancen nicht nur erstes Begehren bei Julian weckt, sondern auch Vater Walter um den Finger zu wickeln versteht. Ihr Stiefvater (Peter Lohmeyer) wiederum, dem das Mietshaus, in dem die Colliens wohnen, gehört, überrascht Julian manchmal in seinem Versteck im Geräteschuppen und verwickelt ihn in anzügliche Gespräche. Das Tugenddiktat unterdrückt solche Normabweichungen notdürftig, es ist aber auch ein Grund, warum Julians Mutter schließlich wegen einer "seelischen Störung" zusammen mit Sophie für eine Weile aufs Land verreist. Ohne die Frau im Haus müssen sich Julian und sein Vater zusammenraufen.

Gegen Ruhrpott-Klischees

Winkelmann findet in den Bildern von Kameramann David Slama eine rührende kindliche Subjektivität. Julian läuft mit staunenden Augen durch den Film: Im Spiel ahmt er das Verhalten und die Sprüche der Großen nach, ohne deren Bedeutung zu verstehen. So bewahren seine Streifzüge durch die Welt der Erwachsenen trotz Winkelmanns Hang zu sozialrealistischer Sachlichkeit stets ein Geheimnis, an dem sich der Blick auf das Milieu und die Erfahrungen der Kindheit brechen.

Solche Diskrepanzen sorgen immer wieder für komische Situationen, wenn etwa Maruscha ihre Reize an dem Jungen testet, und Julians vermeintlich coole Antworten seine Unwissenheit verraten. In "Junges Licht" befindet sich diese Perspektivierung in einem ständigen Wandel, weil der Film unvermittelt zwischen Schwarz-Weiß und Farbe, aber auch zwischen einem fast quadratischen Bildformat und Cinemascope wechselt.

Mit diesem Kunstgriff arbeitet Winkelmann stilsicher gegen gängige Ruhrpott-Klischeebilder an, denn eigentlich ist "Junges Licht" ein Abenteuerfilm. Seine Bilder führen hinaus aus den beklemmenden Verhältnissen und verwandeln die Arbeitersiedlung in einen verwunschenen, manchmal auch gefährlichen Märchenparcours. So ist auch nie ganz klar, ob die orangerote Färbung des Himmels von den Hochöfen stammt, oder als artifizieller Farbtupfer in der tristen Realität des "Potts" gemeint ist.

Die Entdeckung des Films ist Oscar Brose als Julian. Sein wacher Blick steht der zarten Melancholie von "Junges Licht" entgegen, in der die Bundesrepublik monolithisch verharrt - während Julian, Maruscha und die anderen Kinder bereits in eine neue Welt aufbrechen.