Missbrauchsbeauftragter: Sexueller Kindesmissbrauch kaum erforscht

Missbrauchsbeauftragter: Sexueller Kindesmissbrauch kaum erforscht
Rörig fordert Aufbau einer verlässlichen Datengrundlage
Hunderttausende Kinder in Deutschland sind Opfer sexuellen Kindesmissbrauchs. Wer genau betroffen ist und in welchem Ausmaß, kann aber nicht festgestellt werden. Es fehlen unter anderem Langzeitstudien und einheitliche Forschungsstandards.

Berlin (epd)Der sexuelle Missbrauch von Kindern und Jugendlichen ist in Deutschland laut dem Missbrauchsbeauftragten der Bundesregierung nur unzureichend erforscht. "Es existiert noch keine verlässliche Datenlage zur Häufigkeit von sexuellem Kindesmissbrauch", erklärte Johannes-Wilhelm Rörig bei der Vorstellung der von ihm in Auftrag gegebenen Expertise "Häufigkeitsangaben zum sexuellen Missbrauch" am Montag in Berlin. Noch immer fehle es in Deutschland an validen Zahlen, wie oft Kinder Opfer sexuellen Missbrauchs würden oder ob mehr Mädchen oder Jungen betroffen seien.

Um der fehlenden Datengrundlage zu begegnen, hatten Jörg Fegert, der Ärztliche Direktor der Kinder- und Jugendpsychiatrie am Universitätsklinikum Ulm, und sein Team für die Expertise verschiedene nationale Studien zum Thema sexueller Kindesmissbrauch in Europa zusammengetragen und daraus Häufigkeitsangaben für Deutschland abgeleitet. Demnach sind in der Bundesrepublik von insgesamt 13 Millionen Kindern mehr als eine Million von sexuellem Missbrauch betroffen. 200.000 davon erlitten sogar besonders schwere Formen des Missbrauchs wie etwa Vergewaltigungen.

Mädchen deutlich häufiger Opfer

Laut der Expertise sind Mädchen deutlich häufiger Opfer sexueller Gewalt als Jungen. Dass es Männern und Jungen schwerer falle, über den Missbrauch zu sprechen, sei nur bedingt für den Unterschied verantwortlich. Grundsätzlich trete sexueller Kindesmissbrauch nur selten isoliert auf.

"Die Expertise zeigt die enorme Dimension von sexueller Gewalt", erklärte Rörig. Dennoch sei diese "weiten Teilen von Politik und Bevölkerung offenbar bis heute nicht bewusst." Auch Fegert beklagte, Missbrauch werde noch immer als "Randerscheinung und nicht als gesamtgesellschaftliche Aufgabe" wahrgenommen.

Als Grund für den Mangel an Daten führte Fegert unter anderem die verschiedenen Definitionen von Kindesmissbrauch in der Forschung an. So sei beispielsweise unklar, ob der sexuelle Missbrauch von Kindern über das Internet oder sexuelle Gewalt unter gleichaltrigen Jugendlichen in den Definitionen berücksichtigt würden. Entsprechend schwankten auch die Prozentangaben zur Anzahl der Betroffenen in Deutschland erheblich. Je nach zugrundeliegender Studie seien zwischen zwei und 20 Prozent der Kinder Opfer sexuellen Missbrauchs.

Forderungskatalog ausgearbeitet

Um die Forschung zukünftig zu vereinheitlichen und so auch langfristige Trends zur Zu- oder Abnahme von sexuellem Kindesmissbrauch feststellen zu können, hatte Rörig gemeinsam mit Experten und Betroffenen einen Forderungskatalog ausgearbeitet. Dieser sieht unter anderem in regelmäßigen Abständen Studien nach dem gleichen Schema vor.

Alex Stern, Mitglied des Betroffenrates, forderte zudem eine stärkere Beteiligung und Berücksichtigung der Opfer sexueller Gewalt in der Forschung: "Im Sinne der Betroffenen ist es wichtig, dass mit und nicht an ihnen geforscht wird." Manche Betroffene hätten in der Forschung bereits die Erfahrung gemacht, von anderen Menschen zum Objekt degradiert zu werden. So sollten Betroffene beispielsweise an den Universitäten die Möglichkeit erhalten, selbst zu forschen. Auch Rörig sprach sich für eine verbesserte Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft und Praxis aus.