Busticket Richtung Europa

epd-bild/Joerg Koch
Ankunft von Flüchtlingen am Münchner Hauptbahnhof Anfang September. Afghanen stellen die zweitgrößte Flüchtlingsgruppe nach Syrern.
Busticket Richtung Europa
Ohne Job, ohne Sicherheit und ohne
Perspektiven entschließen sich vor allem junge Afghanen zur Flucht
Afghanistan erlebt einen Exodus von Menschen, die in Europa ein neues Leben beginnen wollen. In Kabul wachsen die Flüchtlingslager, und immer wieder explodieren Bomben. Und junge Leute finden kaum eine Anstellung.

Dubai (epd)Vor Afghanistans einziger Pass-Behörde in Kabul bilden sich schon vor dem Morgengrauen lange Schlangen. Unter den Hunderten Ausreisewilligen steht Hamidullah, ein 32-jähriger Elektriker, der seinen vollen Namen nicht genannt haben möchte: "Wir haben hier null Prozent Chancen auf ein friedliches Leben", sagt er. In seiner Heimatprovinz Ghasni herrschen die Taliban. Hamidullah will mit seiner Familie nach Europa. Angst vor der gefährlichen Bootsfahrt von der Türkei nach Griechenland hat er nicht. "In Afghanistan ist es gefährlicher", sagt er lapidar.

Deutschland ist beliebt

Das zentralasiatische Land erlebt einen Exodus. Etwa 80.000 Menschen sollen allein in diesem Jahr Afghanistan verlassen haben. Die Reise nach Europa beginnt in der Regel mit einer Busfahrt nach Nimrus an der iranischen Grenze. Deutschland ist wegen der historischen Beziehungen zwischen beiden Ländern besonders beliebt. Fernsehberichte über gekenterte Flüchtlingsboote und erschöpfte Afghanen am Münchner Hauptbahnhof haben kaum abschreckende Wirkung.

Bei den Neuankömmlingen in Europa stellen Afghanen die zweitgrößte Flüchtlingsgruppe nach Syrern. Kabuls Pass-Behörde nimmt pro Tag über 2.5000 Anträge entgegen. Die Bearbeitungszeit liegt inzwischen bei über 45 Tagen, früher dauerte sie nur ein paar Tage. Vor allem junge Afghanen sind zur Ausreise entschlossen. Ihr Land befindet sich im Bürgerkrieg. Die radikalislamischen Taliban kämpfen seit ihrem Sturz 2001 durch US-geführte internationale Truppen um eine Rückkehr an die Macht.

Ende September brachten die Aufständischen sogar die Provinzhauptstadt Kundus im Norden unter ihre Kontrolle. Teile der Stadt konnte die afghanische Armee inzwischen zurückgewinnen. Doch die Situation bleibt instabil. In vielen Gebieten im Land haben die Taliban wieder an Boden gewonnen. Und erst am Montag wurde eine Ärztin, die für die Vereinten Nationen arbeitete, in Kandahar auf offener Straße erschossen.

Voll von Notlagern

Noch radikaler als die Taliban ist die Terrormiliz "Islamischer Staat", die unter dem Namen "Daesh" in Afghanistan operiert, und einige Taliban-Führer auf ihre Seite zog. Der Kampf zwischen den islamischen Aufständischen und den afghanischen Truppen wird zunehmend blutiger: Laut den Vereinten Nationen gab es in den ersten sechs Monaten des Jahres 44 Terroranschläge mit mehr als 1.000 Toten und Verletzten.

Viele Afghanen fliehen vor Kämpfen in den Provinzen in die noch relativ sichere Hauptstadt. Kabul ist bereits voll von Notlagern. Seit Ende September kamen allein aus Kundus um die 600 Familien. Die Fünf-Millionen-Stadt Kabul hat längst keinen Platz mehr für die Neuankömmlinge, die in provisorischen Hütten und Zelten hausen. Mehr als 100.000 Menschen wurden allein in diesem Jahr innerhalb Afghanistans vertrieben. Etwa eine Million Afghanen ist im eigenen Land auf der Flucht.

Nur drei Millionen haben Arbeit

Zu den Flüchtlingen vom Land kommen die Afghanen aus Pakistan: Das Nachbarland hatte über Jahrzehnte hinweg Hunderttausende Afghanen beherbergt, doch Ende 2014 begannen die Behörden damit, Flüchtlingssiedlungen aufzulösen und Afghanen in ihre Heimat zurückzuschicken. Insgesamt um die 2,6 Millionen Afghanen, fast zehn Prozent der Bevölkerung - leben als Flüchtlinge in den Nachbarländern Iran und Pakistan.

Seit dem Ende der Kampfmission der Nato-Truppen im Dezember 2014 hat sich neben der Sicherheitslage auch die Situation auf dem Arbeitsmarkt weiter verschlechtert. Laut Statistik der Weltbank kommen jedes Jahr 180.000 Afghanen neu auf den Arbeitsmarkt, doch nur 60.000 von ihnen finden eine Anstellung. Noch düsterer ist das Bild des Gewerkschaftsverbandes. Nach seinen Angaben hat Afghanistan 16 Millionen arbeitsfähige Menschen, aber nur drei Millionen von ihnen haben einen Job.

Gegen die Abwanderung helfen alle Appelle der Regierung in den sozialen Medien nichts: "Geh nicht. Bleib bei mir", heißt es in einem Facebook-Posting. Und unter dem Bild eines Bauern mit strahlendem Lächeln steht: "Ich liebe mein Land. Ich werde es nicht verlassen."