Die 43 leeren Stühle von Ayotzinapa

Die 43 leeren Stühle von Ayotzinapa
Ein Jahr nach Verschwinden von
Studenten wartet Mexiko noch immer auf Aufklärung
Am 26. September 2014 wurden in Mexiko 43 Studenten eines Lehrerseminars verschleppt und ermordet. Der Fall erschütterte das ganze Land und zeigt, wie eng Sicherheitsbehörden mit dem organisierten Verbrechen zusammenarbeiten.

São Paulo, Mexiko-Stadt (epd)Unterricht gibt es im Lehrerseminar von Ayotzinapa seit einem Jahr nicht mehr. Überall hängen Fotos der verschwundenen Studenten, ihre Gesichter werden von Kerzen erleuchtet. Vor dem Eingang stehen 43 leere Stühle. Das ländliche Seminar ist zu einem Protestlager geworden. Seit zwölf Monaten verlangen die Angehörigen Aufklärung über ein Verbrechen, das ganz Mexiko erschüttert hat. "Es gibt kein Schlupfloch für Straffreiheit, wir werden die Verantwortlichen finden", sagt Felipe Flores, Sprecher der Angehörigen.

Verschleppt und ermordet

Am 26. September 2014 wurden die 43 Lehramtsstudenten im zwei Stunden entfernten Iguala, wo sie an Protesten teilnehmen wollten, verschleppt und offenbar ermordet. Der Fall löste in ganz Mexiko eine Welle aus Zorn und Wut aus, die bis heute anhält. Rund zwei Millionen Menschen nahmen inzwischen landesweit an Protesten und Mahnmärschen teil. Weltweit gab es Solidaritätsbekundungen.

"Dieses Verbrechen ist für immer im kollektiven Bewusstsein des Landes eingraviert", sagt der Menschenrechtsaktivist Abel Barrera von der Nichtregierungsorganisation Tlachinollan. "Der Fall Iguala zeigt die Realität Mexikos - Gewalt, Repression, Verschleppungen und Mord."

Die mexikanische Regierung wollte den Fall Iguala so schnell wie möglich abhaken. Rund drei Monate nach dem Verbrechen erklärte der inzwischen zurückgetretene Generalstaatsanwalt Jesus Murillo Karam die jungen Menschen für tot und präsentierte einen Abschlussbericht. Drogendealer der "Guerreros Unidos" sollen die Studenten in einer nahe gelegenen Müllkippe verbrannt haben. Die offizielle Version schien plausibel, stütze sich auf Geständnisse von inhaftierten Bandenmitglieder. Doch schon damals hatten Wissenschaftler erheblich Zweifel an der Version.

Vor kurzem zerpflückten auch Experten der Inter-Amerikanischen Menschenrechtskommission den offiziellen Ermittlungsbericht. "Die Tat hat, so wie sie dargestellt wurde, nicht stattgefunden", stellten sie fest. Ebenso als falsch wurde die offizielle Version zurückgewiesen, die Studenten seien mit Mitgliedern einer rivalisierenden Drogenbande verwechselt worden.

Bürgermeister in Haft

Die Leichen der Studenten wurden nie gefunden. Nur anhand von DNA-Material konnten Experten der Universität Innsbruck zwei der jungen Menschen identifizieren. Mehr als 100 Verdächtige wurden festgenommen, die meisten von ihnen sind örtliche Polizisten. Lange wurde der Bürgermeister von Iguala von der Staatsanwaltschaft als Urheber des Verbrechens präsentiert. Er und seine Frau sollen die Tat angeordnet haben. Beide sind in Haft.

Doch nicht nur die Familien der Studenten bezweifelten schon früh diese Version. Sie glauben an eine Zusammenarbeit von Bundespolizei und Militär mit der Drogenmafia. Nach Aussage des chilenischen Rechtsanwalts Francisco Cox, Experte bei der Inter-Amerikanischen Menschenrechtskommission, war eine Verbrennung von 43 Leichen auf der nahe gelegenen Müllkippe Cocula unmöglich. Diese Version hatten die Mitglieder der "Guerreros" zu Protokoll gegeben. Cox erklärte, 30 Tonnen Holz hätten mindestens 60 Stunden lang brennen müssen, um 43 Leichen einzuäschern. Das sei aber nicht geschehen.

Kampf gegen Straflosigkeit

Auch die mexikanischen Physiker Jorge Antonio Montemayor und Pablo Ugalde stützen diese These. Das einzige in der Nähe gelegene Krematorium mit einer solchen Kapazität sei das des Militärs, sagt Montemayor. Es gebe keine privaten Krematorien. Das Militär müsse externe Untersuchungen zulassen, fordert er. Der Vater eines Studenten hat berichtet, dass das Handy seines Sohnes am 26. September 2014 zuletzt in der Kaserne des 27. Infanteriebataillons in Iguala lokalisiert worden sei.

"Das organisierte Verbrechen hat in Mexiko alle Strukturen unterwandert", sagt Menschenrechtsaktivist Barrera. "Der Fall Iguala ist jetzt zu einem Symbol für den Kampf gegen die Straflosigkeit geworden."