Der Gottesdienst ist keine One-Man-Show

Foto: epd-bild/Anke Kristina Schäfer
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Der Gottesdienst ist keine One-Man-Show
Warum die Gemeinde in der Kirche auch etwas tun muss
Sonntagmorgen, 10 Uhr. Die Gemeinde sitzt in der Kirche, der Pfarrer steht vorn. Er spricht, sie hören zu. Ein ganz normaler Gottesdienst. Nach einer Stunde gehen alle wieder nach Hause. Doch nach evangelischem Verständnis ist das nicht alles: Die Gemeinde sollte im Gottesdienst nicht nur zuhören, sondern aktiv mitmachen. Die Menschen im Gottesdienst sind mehr als nur Besucher.

"So seid ihr nun nicht mehr Gäste und Fremdlinge, sondern Mitbürger der Heiligen und Gottes Hausgenossen", heißt es im Epheserbrief im neuen Testament (Epheser 2,19). Seit der Reformation spricht man in der evangelischen Kirche vom "Priestertum aller Getauften", es soll kein hierarchisches Gefälle zwischen Amtsträgern und Gemeindegliedern geben. Alle zusammen bilden gleichberechtigt die Kirche, die nach evangelischem Verständnis "Versammlung aller Gläubigen" ist, so formulierten die Reformatoren in Artikel 7 des Augsburger Bekenntnisses (1530). Die Kirche realisiert sich also in der konkreten Versammlung, im Gottesdienst.

Wesentliche Bestandteile des Gottesdienstes sind nach dem Augsburger Bekenntnis die Predigt und die Sakramente (Abendmahl und Taufe). Beides ist nichts anderes als Kommunikation: Gott kommuniziert mit den Menschen, indem sie untereinander kommunizieren – durch Sprache und Symbole. Martin Luther hat in seiner berühmten Predigt zur Weihe der Kirche in Torgau 1544 gesagt, das Gotteshaus sei dafür bestimmt, " … daß nichts anderes darin geschehe, als daß unser lieber Herr selbst mit uns rede durch sein heiliges Wort und wir umgekehrt mit ihm reden durch unser Gebet und Lobgesang." Reden und Zuhören, Erleben, Fühlen und Schmecken, Symbole und Sakramente, Singen, Bekennen und Beten gehören zu diesem umfassenden Kommunikationsgeschehen im Gottesdienst dazu. Erst dadurch, dass alle mitmachen, kommt Gottes Wort überhaupt zustande.

Die Gemeinde als "erste Liturgin"

Es wäre also ein Missverständnis, den Gottesdienst als One-Man-Show des aktiven Pfarrers für die passive Gemeinde zu betrachten. Das Gottesdienstbuch der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschland (VELKD) und der Evangelischen Kirche der Union (EKU), das 1999 neu aufgelegt wurde, hält fest: "Die Reformation hat das Priestertum aller Getauften neu zur Geltung gebracht. Daher ist die ganze Gemeinde für den Gottesdienst verantwortlich. Die Gemeinde, die von Gott mit der Vielfalt der Geistesgaben beschenkt wird, soll sich mit all diesen Gaben, Fähigkeiten und Erkenntnissen am  Gottesdienst beteiligen."

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Das Amt der Gemeinde im Gottesdienst ist gleichberechtigt mit den Ämtern von Pfarrer, Kantorin, Liturg oder Lektorin. Der Gottesdienst wird "nicht vom Pfarrer oder der Pfarrerin ‚gehalten‘, sondern von der ganzen Gemeinde gefeiert", so der Rat der EKD in "Der Gottesdienst. Eine Orientierungshilfe zu Verständnis und Praxis des Gottesdienstes in der evangelischen Kirche" (Gütersloh 2009). Lesungen, Lieder und die Musik des Chores gehören neben der Predigt auch zur Verkündigung. Deswegen "spielen die Personen, die daran teilhaben, nicht nur eine leicht entbehrliche 'Zusatzrolle'. nein – sie haben Anteil an der 'Hauptrolle'."

Für die Evangelisch-reformierte Kirche ist die Gemeinde sogar "erste Liturgin", Gottesdienst ist "Handeln der Gemeinde vor Gott", so der Theologe Klaus Raschzok. In der Gottesdienst-Agende der Reformierten Kirche (1999) schreibt Peter Bukowski: "Wer die Gabe hat zu lesen, möge lesen. Wer die Gabe hat zu beten, möge beten. Wer die Gabe hat auszulegen, möge an der Auslegung beteiligt werden." Hier wird besonders deutlich: Es geht nicht um ein Gegenüber von Pfarrer und Gemeinde, sondern um ein Miteinander aller Menschen im Gottesdienst. Das Amt der Gemeinde als "erste Liturgin" wird dadurch unterstrichen, dass sie an manchen Stellen aufsteht – zum Gesang, Bekenntnis oder Gebet.

"Der Widerklang von Christus im Herzen"

Doch die Kommunikation zwischen Gott und Mensch kommt sogar auch ohne diese äußeren Beteiligungsformen zustande – allein wenn die Teilnehmenden sitzen und aufmerksam der Predigt zuhören. Die Predigt als Kern des evangelischen Gottesdienstes wird nicht in dem Moment vollendet, in dem der Pfarrer die Worte ausspricht, sondern erst dann, wenn die Zuhörenden das Gehörte mit ihren eigenen Gedanken und Erfahrungen verbinden und je ihre eigene Predigt daraus bilden. Selbst wenn also jemand nur still dasitzt und sich gar nicht äußert, kommt die von Luther gemeinte wechselseitige Kommunikation zustande: "Das Angesprochenwerden durch Christus, der Widerklang von Christus im Herzen ist das Entscheidende", schreibt der Theologe Michael Meyer-Blanck. "Statt vom Wort Gottes und der Antwort könnte man auch von der Christusresonanz sprechen. [...] Es ist das unmittelbare Gewisswerden der Christusrede, welches den Gottesdienst zum Gottesdienst macht."

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In der EKD-Broschüre heißt es dazu: "Man unterscheidet zwischen innerer und äußerer Beteiligung, obwohl beide eigentlich zusammengehören. Eine innere Beteiligung empfinden Menschen, wenn sie sich durch das, was im Gottesdienst geschieht, angesprochen fühlen und in den gottesdienstlichen Dialog mit Gott hineinkommen. (…) Eine aktive innere Beteiligung findet bei ihm dann statt, wenn er sich als getragen, gestärkt und getröstet erfährt, sich zum Hoffen ermutigt und zum solidarischen Handeln befähigt sieht." Die äußere Beteiligung "drückt sich beispielsweise im Mitsprechen oder Mitsingen, im Weitergeben des Friedensgrußes oder in Gesten und anderen liturgischen Bewegungen aus."

Das gemeinsame Feiern des Gottesdienstes kann schon durch die Raumgestaltung ausgedrückt werden: Eine niedrige Kanzel oder ein Stehpult nah an der Bestuhlung sorgt für mehr Nähe als eine erhöhte, weit entfernte Kanzel. Sprachliche Formulierungen können besonders dazu beitragen, dass die Gemeinde einbezogen wird: Der Pfarrer sagt zum Beispiel nicht: "Ich" und "Sie", sondern "Wir". Die Predigt kann so formuliert werden, dass die Einzelnen sich direkt angesprochen fühlen, zum Beispiel durch direkte Fragen oder in der Form eines Bibliologs. Wenn Psalmen im Wechsel gebetet und Fürbitten durch gemeinsames Singen des "Herr erbarme dich" beantwortet werden, nimmt die Gemeinde daran aktiver teil, als wenn beides nur vorgetragen wird.

Mehr Bewegung wagen

Der Rat der EKD empfiehlt die gemeinschaftliche Vorbereitung von Gottesdiensten – auch, um die Pfarrer zu entlasten. Besonders in reformierten Gemeinden ist es üblich, dass Mitglieder des Presbyteriums sich durch Lesungen, Gebete und Austeilung des Abendmahls beteiligen. Symbolische Aktionen, bei denen die Teilnehmer während des Gottesdienstes ein Licht anzünden, eine Postkarte schreiben, einen Luftballon steigen lassen, einander mit Salböl segnen etc. müssen nicht unbedingt in die "besonderen" Gottesdienste und Thomasmessen ausgelagert werden – warum nicht auch im normalen Sonntagsgottesdienst mehr Bewegung wagen und neue Formen ausprobieren?

Was auch immer die Gemeinde im Gottesdienst erlebt, tut, hört und denkt: Sie sollte nicht sofort schweigend aus der Kirche hinausgehen. Die "Kirche" ist nicht mit dem Orgelnachspiel zu Ende. Ein Kaffeetrinken oder Mittagessen im Anschluss bietet Gelegenheit, sich über das Erlebte auszutauschen und das Gemeinschaftsgefühl zu stärken.