11.8.2013 Berlin: "Du sollst lieben"

Foto: epd-bild/Norbert Neetz
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11.8.2013 Berlin: "Du sollst lieben"
Predigt von Nikolaus Schneider
Predigt aus dem ZDF-Fernsehgottesdienst am 11. August 2013 über Markus 12, 28-34 von Nikolaus Schneider, dem Ratsvorsitzenden der EKD.
08.08.2013
Nikolaus Schneider

Die Frage nach dem höchsten Gebot (Mk 12, 28-34)
Und es trat zu ihm einer von den Schriftgelehrten, der ihnen zugehört hatte, wie sie miteinander stritten. Und als er sah, dass er ihnen gut geantwortet hatte, fragte er ihn: Welches ist das höchste Gebot von allen? Jesus aber antwortete ihm: Das höchste Gebot ist das: "Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist der Herr allein, und du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüt und von allen deinen Kräften". Das andre ist dies: "Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst" (3.Mose 19,18). Es ist kein anderes Gebot größer als diese. Und der Schriftgelehrte sprach zu ihm: Meister, du hast wahrhaftig recht geredet! Er ist nur "einer," und ist kein anderer außer ihm; und ihn lieben von ganzem Herzen, von ganzem Gemüt und von allen Kräften, und seinen Nächsten lieben wie sich selbst, das ist mehr als alle Brandopfer und Schlachtopfer. Als Jesus aber sah, dass er verständig antwortete, sprach er zu ihm: Du bist nicht fern vom Reich Gottes. Und niemand wagte mehr, ihn zu fragen.

 

Liebe Gemeinde,

es steht ein Verdacht im Raum. Und der lautet: Der Glaube an Gott macht Menschen intolerant. Und diejenigen, die diesen Verdacht äußern, müssen nicht lange suchen, um ihren Vorwurf zu untermauern.

Sie zitieren zum Beispiel biblische Geschichten wie die vom Propheten Elia, der 500 Priester eines heidnischen Kultes mit dem Schwert umbrachte. Sie erinnern an die Geschichte der christlichen Kirchen von den Kreuzzügen bis hin zu fundamentalistischen Eiferern unserer Tage, die Homosexuelle hassen oder Jagd auf  Abtreibungsärzte machen.

Sie verweisen auf fundamentalistische Gewaltausbrüche in der islamischen Welt, auf kriegstreibenden Starrsinn jüdischer Siedler in Palästina und auf Palästinenser, die sich zu Bomben gegen Juden und Jüdinnen machen, und auf Gewalt zwischen Buddhisten und Hindus in Indien. Liegt also im Glauben an Gott die Gefahr der Intoleranz?

Verhindert eine persönliche Glaubensgewissheit die gute Nachbarschaft zu Menschen mit anderen Überzeugungen? Ja, Menschen missbrauchen die eigene Religion, um Gewalt zu legitimieren. Ja, Menschen benutzen die eigenen Glaubensüberzeugungen dazu, um Andere und Anderes zu verteufeln. Das gab es und das gibt es – leider Gottes – in allen Religionen. Ein solches Verhalten aber hat nichts mit der Liebe Gottes zu seinen Menschen zu tun.

Und ein solches Verhalten widerspricht dem Gottesglauben, zu dem Jesus Christus uns Menschen einlädt. Jesus Christus hat uns ein anderes Verhalten vorgelebt, gelehrt und gepredigt. Das zeigt auch der Predigttext für diesen Gottesdienst – wir haben ihn eben als Evangeliums-Lesung gehört. "Welches ist das höchste Gebot von allen?", wird Jesus hier von einem Schriftgelehrten gefragt. Jesus fügt in seiner Antwort zwei Gebote des jüdischen Glaubens zum "Doppelgebot der Liebe" zusammen.

Die Liebe Gottes zu uns Menschen

Er sagt: "Das höchste Gebot ist das: ‚Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist der Herr allein, und du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüt und von allen deinen Kräften.‘ Und das andere ist dem gleich: ‚Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.‘ Es ist kein anderes Gebot größer als diese." (vgl. Mk 12, 28-31)

Jesus macht mit seiner Antwort unmissverständlich klar: Der liebende Gott gibt uns Menschen Gebote und Weisungen, die durch die Liebe von Menschen ihre Erfüllung finden – und nicht im Recht-Haben-, Recht-Behalten- und Recht-Durchsetzen. Unsere Liebe zu Gott und unsere Liebe zu den Mitmenschen sollen alle anderen göttlichen Gebote und Weisungen gleichsam umfassen, binden und durchdringen.

Wenn das geschieht, dann macht der Glaube an Gott uns Menschen nicht intolerant, sondern ruft und befähigt uns zur Liebe, die zur Toleranz hinführt! Zur Liebe: Die Liebe, von der Jesus uns mit seinem Leben, Sterben und Auferstehen Zeugnis gibt, hat gleichsam drei Bewegungen: Die erste Bewegung ist die vom Himmel zur Erde.

"Von ganzem Herzen, von ganzer Seele"

Das ist die Liebe Gottes zu uns Menschen. Diese Liebe ist die Grundlage von allem. Sie wird uns von Gott geschenkt. Völlig unverdient. Sie öffnet den Himmel zur Erde. Sie legt den Grund dafür, dass wir Menschen Gott mit unserem Glauben und Lieben antworten können. Für Christinnen und Christen hat sich diese Liebe Gottes in einmaliger Weise in Jesus Christus verkörpert.

Die zweite Bewegung ist die von der Erde zum Himmel. Das ist die Liebe von uns Menschen zu Gott. Diese Liebe festigt in uns die Gewissheit, gehalten zu sein. Sie hält uns den Himmel offen, auch wenn unsere  krisengeschüttelte Erde uns ängstigt. Auch wenn uns der Boden unter den Füßen wegzubrechen droht. Unsere Liebe zu Gott, als dem einen und einzigen Herrn allen Lebens, ist das Band, das unser vergängliches und fragmentarisches Erdenleben an das unzerstörbare Leben im ewigen Gottesreich bindet.

Unsere Liebe zu Gott legt deshalb in uns ein Fundament, das nicht auf Sand, sondern auf Fels gebaut ist.  Dieses Fundament lässt uns in der Gewissheit von Gottes Gegenwart und Nähe zuversichtlich leben und hoffnungsvoll sterben. Deshalb heißt es über unsere Liebe zu Gott: wir sollen ihn lieben "von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüt und mit allen unseren Kräften."

Nährboden für gute Nachbarschaft

Unser ganzes Lieben soll an Gott gebunden bleiben. So, wie das rote Band der Toleranz an Gottes Wort  gebunden bleibt. Die dritte Bewegung ist die auf der Erde. Das ist die Liebe von Mensch zu Mitmensch. Diese Liebe führt zu guter Nachbarschaft. Sie lässt uns in jedem anderen Menschen, unabhängig von seiner Nationalität und seiner Weltanschauung, Gottes geliebtes Geschöpf erkennen - unseren Bruder und unsere Schwester.

Diese Liebe motiviert und befähigt uns zu einer respektvollen Toleranz auch gegenüber dem uns bleibend Fremden – gerade weil sie in der Gottesliebe gegründet ist. Aber diese Liebe zeigt uns auch die Grenzen der Toleranz auf, wenn wir sehen, wie andere Menschen verunglimpft und angegriffen, verletzt und ermordet werden.

Nächstenliebe befähigt zum Mitfühlen und Mitleiden mit nahen und fernen Nächsten und bewegt zum Tun des Gerechten - im persönlichen Umfeld wie auch in der großen Politik. Denn wenn wir unsere Nächsten lieben "wie uns selbst", dann erschöpft sich dieses Lieben nicht in tätiger Nothilfe. Dann fragen und suchen wir um der Liebe willen auch nach Strukturen von Frieden und Gerechtigkeit. Und dann suchen wir nach Wegen, Gottes Schöpfung für unsere Nachfahren zu bewahren. Diese Liebe von Mensch zu Mitmensch ist ein Nährboden für gute Nachbarschaft in unserem Stadtteil, in unserem Land, in Europa und weltweit.

"Nur wer für die Juden schreit, darf auch gregorianisch singen"

Alle drei Bewegungen der Liebe gehören in unserem christlichen Glauben untrennbar zusammen. Und eben dieser Zusammenhang und Zusammenklang verhindern, dass der Glaube an Gott Menschen intolerant macht. Sie befähigen zu einer Liebe, die zur Toleranz führt. Hier in dieser Kirche ist die Erinnerung an einen großen Theologen und Zeitzeugen des christlichen Glaubens sehr lebendig.

Dietrich Bonhoeffer ist eine Zeit lang in der Zionskirche Pfarrer gewesen und hat den konkreten Zusammenhang von Gottesliebe und Menschenliebe sowie vom "Beten und Tun des Gerechten" gepredigt und gelebt. Ihm hatte es keine Ruhe gelassen, dass im damaligen Arbeiterviertel unter seinen Konfirmanden etliche waren, die sich keinen Anzug zur Konfirmation leisten konnten. Er hat geholfen. Er hat Stoff besorgt. Und in der Gemeinde  wurden Anzüge geschneidert.

Das biblische Doppelgebot der Liebe

Dietrich Bonhoeffer hat es keine Ruhe gelassen, dass auch in seiner evangelischen Kirche Jüdinnen und Juden verunglimpft, verraten und ausgegrenzt wurden.  Er hat sein Gewissen und das seiner Mitmenschen immer wieder wach gerüttelt, indem er forderte: "Nur wer für die Juden schreit, darf auch gregorianisch singen." Dieser Satz Bonhoeffers schreibt uns auch heute in unsere Herzen: Wer an dem Leiden seiner Mitmenschen  vorbeisieht und vorbeigeht, der missachtet die Liebe Gottes zu seinen Menschen. Wer seine Nächsten nicht liebt, der macht seine Gottesliebe zur Lüge!

Das biblische Doppelgebot der Liebe setzt uns in Bewegung. Wer liebt, der kann nicht nur bei sich und mit sich allein bleiben. Die Liebe setzt uns in Bewegung zu guter Nachbarschaft gerade auch mit denen, die uns fremd sind und andere Überzeugungen haben. Die Liebe lässt uns mit unseren Worten und Taten dem Verdacht widersprechen, dass der Glaube an den einen und einzigen Gott Menschen intolerant mache. Mögen wir – hier in Berlin und an allen Orten – durch Gottes Liebe zu Werkzeugen seines Friedens werden und Liebe üben auch und gerade in lieblosen Zeiten und an lieblosen Orten. Dazu leite und begleite uns Gottes Geist.

Amen.