"Wir brauchen einen Marshall-Plan für die Ukraine"

Foto: Stanislav Krupar/laif
Evgeniy (17) mit seinen drei Brüdern und seiner Schwester in der Flüchtlingsunterkunft eines Krankenhauses in Konstantinovka. Seit drei Monaten lebt die Familie hier, weil ihr Haus in Gorlivka ausgebombt wurde.
"Wir brauchen einen Marshall-Plan für die Ukraine"
Um Debalzewo im Osten der Ukraine wird trotz der ausgehandelten Waffenruhe weiter gekämpft. Der Bürgerkrieg in der Ukraine ist eine Tragödie unermesslichen menschlichen Leids. Jörn Ziegler vom Kinderhilfswerk "ChildFund Deutschland" setzt sich dafür ein, ukrainische Kinder psychologisch zu betreuen.

Sie waren vor kurzem in der Ukraine, wo wegen Kriegshandlungen die Menschen vom Osten des Landes in die westlicheren Regionen fliehen -  welche Auswirkungen hat das?

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Jörn Ziegler: Bei einer Bevölkerung von 45 Millionen Personen sind schon mindestens anderthalb Millionen aus ihrer Heimat davon gelaufen. Viele finden nicht so schnell Arbeit, die Kinder müssen sich umgewöhnen, viele sind schwer traumatisiert, da sie Monate lang unter Kampfbedingungen gelebt haben. Ein sowieso wirtschaftlich benachteiligtes und sehr schwaches Land erfährt hier nochmal in einer ganz neuen Dimension die Zuspitzung von sozialer und wirtschaftlicher Not.

Die Entwicklung ist auch noch nicht zum Stillstand gekommen, in den letzten zwei Wochen wurden pro Tag 2.000 neue Flüchtlinge registriert. In manchen Unterkünften leben bereits 20 Menschen in einem Zimmer. Dieses Flüchtlingsproblem wird eine neue Herausforderung in Richtung Integration und Reintegration darstellen. Und das könnte leider auch schnell ein Thema für andere Länder in Europa werden, wenn sich der Konflikt ausweitet.

Sie haben dort die Situation der Binnenflüchtlinge erlebt und mit ihnen gesprochen. Was hat Sie besonders bewegt?

Ziegler: Die Dimension des menschlichen Leides ist immer etwas sehr Bewegendes, wenn man individuelle Gespräche führt und von Angehörigen hört, die verschwunden sind. Die Angst der Menschen dreht sich darum, dass getrennte Familien wieder zusammenfinden. Die allermeisten Flüchtlinge sind Frauen und Kinder. Das erinnert mich an Bosnien, auch wenn es einen anderen Hintergrund hat. Oft sind es die Männer, die versteckt sind im Osten, oder auf einer der beiden Seiten mitkämpfen, oder die versuchen, in der Nähe ihres Eigentums zu bleiben.

Dann hört man von manchen, die nirgendwo mitkämpften, aber durch die Geschosse verletzt wurden, und dann in den Separatistengebieten nicht ins Krankenhaus gekommen waren, jetzt aber im Westen versorgt werden. Diese Leiden berühren einen unmittelbar. Viele Aussagen hörten sich so an: "Wir wissen eigentlich nicht, was da mit uns passiert ist, wir hatten unsere Probleme, aber wir haben lange friedlich zusammengelebt, warum musste das alles so kommen?"

Wer kümmert sich um die Flüchtlinge?

Ziegler: Überall da, wo ich etwas davon gehört habe und wo ich es selbst mitbekommen habe, sind viele Freiwillige mit einem unglaublichen Einsatz am Werke. Das hat teilweise seine Wurzeln in der Majdan-Bewegung in Kiew, dieser Eifer findet sich aber auch in anderen Landesteilen. Manche Freiwilligen arbeiten mit der Kommunalverwaltung zusammen, manche wirken als reine Bürgerinitiative. Es gibt viele Aufgaben: praktisches Anpacken, es werden Unterkünfte zur Verfügung gestellt, Posten aufgestellt am Bahnhof, die die Ankommenden bewirten, es gibt Sammel- und Verteilstellen für Sachspenden, es gibt Psychologen, die sich um Kinder und besonders Traumatisierte kümmern.

"Die Versorgung mit dem allernötigsten Alltagsbedarf wie beispielsweise Windeln, Binden oder Babynahrung"

Das ist eine enorme Welle der Solidarität unter den Menschen in der Ukraine, die einem dort begegnet. Dieses Phänomen ist vielleicht ein Grund dafür, dass das Flüchtlingselend im Vergleich zu anderen Flüchtlingssituationen, die wir derzeit in der Welt haben, für uns noch nicht so sicht- und spürbar ist. Da bisher interne Kräfte der Menschen - nicht des Staates - ausreichten, um hier allernötigste Hilfe zu leisten. Allerdings ist das begrenzt. Die ganzen Helfer, die ich getroffen habe, machten einen psychisch und physisch erschöpften Eindruck.

Wie hilft ihre Organisation vor Ort?

Ziegler: Wir sind mit Projekten der Kinder- und Jugendsozialarbeit seit 15 Jahren in der Ukraine engagiert und haben seit März letzten Jahres begonnen, zusätzlich Kindern und Jugendlichen zu helfen, die im Rahmen dieser "Binnenflüchtlingswelle" irgendwo gestrandet sind. Doch sind das nur Tropfen auf dem heißen Stein, weil man nicht die Kapazitäten und das Volumen hat, um dort im größeren Stil zu helfen. Das war alles recht spontan, mein aktueller Besuch sollte mich informieren, wie wir die Hilfen der nächsten Monate professionell gestalten können. Wir werden den Schwerpunkt auf die psychologische Hilfe für die Kinder legen, denn es gibt einfach sehr viele posttraumatisch Belastete. Eine unserer Partnerorganisationen sieht zudem Möglichkeiten, in Zusammenarbeit mit dem Roten Kreuz in einem Gebiet unmittelbar westlich der eigentlichen Kampfzone zu helfen. Dort ist die Not am größten.

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Wer hilft sonst noch?

Ziegler: Die Bundesregierung hat hunderte Wohncontainer für Flüchtlinge bereitgestellt. Das Auswärtige Amt, das eigentlich für Nothilfe zuständig ist, hat Mittel bereitgestellt für Organisationen wie zum Beispiel die Diakonie, die über ukrainische Partnerorganisationen den Menschen Hilfsgüter zukommen lässt. Dabei geht es meines Wissens um die Versorgung mit dem allernötigsten Alltagsbedarf wie beispielsweise Windeln, Binden oder Babynahrung. Man kann das alles in der Ukraine kaufen, man muss jedoch das nötige Geld haben. Auch die Caritas ist sehr aktiv und versucht in den östlichen Teilen des Landes Strukturen aufzubauen, um Flüchtlingen besser helfen zu können.

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Was gibt es Positives zu vermelden? Sind sich die Ukrainer durch die Flüchtlingsbewegungen näher gekommen?

Ziegler: Das kann man in Grenzen sagen. Insgesamt ist zu bemerken, dass das Land sehr unübersichtlich ist. Ich habe viele Geschichten gehört, dass durch die Ereignisse, die die Menschen einander näher gebracht haben, Vorurteile beseitigt wurden. Einmal allein durch das Helfen in der Not, dann zwangsläufig dadurch, dass man sich besser kennen lernt. Es gibt Stimmen des Staunens von Flüchtlingen aus dem Osten, dass die Menschen im Westen des Landes gar nicht so unfreundlich seien, wie man das vorher gedacht habe. Es geschieht auch, dass Menschen in den Gegenden, die früher, salopp gesagt, prorussisch orientiert waren, nun sehen, was durch Russlands Einmischung in der Ukraine für ein Elend geschieht. Und die sich von dieser Orientierung abwenden. Da gibt es also durchaus Tendenzen, die in Zukunft für den Frieden nutzbar sind. Voraussetzung ist jedoch, dass der Frieden eintritt.

Was glauben Sie, sollte man noch über die Ukraine wissen, was fällt derzeit in der öffentlichen Wahrnehmung im Westen unter den Tisch?

Ziegler: Das eine ist ein politisches Thema - die innenpolitische Lage. Sie scheint durch die klaren Wahlergebnisse befriedet zu sein. Es gibt eine Regierung, die sich müht, die Systemveränderungen in die Wege zu leiten. Es gibt aber eine große Menge Menschen, die haben trotz allen Leids eine ungeduldige Erwartungshaltung, dass das schneller geht und schnell zu greifbaren Ergebnissen führt. Es hat den "Majdan1" gegeben vor zehn Jahren und vor einem Jahr den "Majdan 2" mit vielen Todesopfern. Es ist nicht auszuschließen, dass die Menschen wieder auf die Straßen gehen und es wieder zu innerer Instabilität kommt, einem "Majdan 3", mit allen damit verbundenen Risiken. Meines Erachtens müssten sich darum die westlichen Länder, insbesondere die europäischen Länder in einem viel größeren Maße und über die reine humanitäre Hilfe hinaus einen Unterstützungsplan für die Ukraine überlegen, um bei diesem Weg eines friedlichen Übergangs wirklich breit zu helfen. Eine Art Marshallplan. Meine starke Hoffnung ist, dass diese Einsicht die Menschen in Westeuropa erreicht.