Filmkritik: "Die Sprache des Herzens"

Die Schwestern Marguerite (Isabelle Carré, l.) und Marie (Ariana Rivoire).
Filmkritik: "Die Sprache des Herzens"
Jean-Pierre Améris hat mit "Die Sprache des Herzens" ein kleines Meisterstück filmischer Einfühlsamkeit gedreht. Der Film beruht auf einer wahren Begebenheit aus den 1890er Jahren und erzählt die Geschichte der taubblinden Marie Heurtin und ihrer Lehrerin.
30.12.2014
epd
Gerhard Midding

Für Schwester Marguerite (Isabelle Carré) ist es Liebe auf den ersten Blick. Unwiderruflich ist es um sie geschehen, als sie Marie (Ariana Rivoire) zum ersten Mal sieht. "Heute bin ich einer Seele begegnet", vertraut sie ihrem Tagebuch an, "einer kleinen, zerbrechlichen Seele. Sie hat auf mich gewartet, gefangen in der Finsternis und Stille." Aus ihrem Gefängnis kann sie diese Seele nicht befreien. Ihr Leben darin jedoch erträglicher, reicher zu machen, ist eine Aufgabe, die Marguerites Herz erfüllen wird.

Für Marie hingegen beginnt die Liebe mit einer Berührung. Zunächst wehrt sie sie heftig ab, denn das taubblinde Mädchen nimmt jede Berührung als eine Bedrohung wahr. Ihre Eltern wollen das wilde Kind, sichtlich schweren Herzens, in die Obhut des Instituts von Larnay geben, das sich der Erziehung taubstummer Kinder widmet. Die Mutter Oberin weist das Gesuch von Maries Eltern zunächst ab, denn wie kann man einer Blinden die Zeichensprache der Taubstummen beibringen? Doch widerwillig gibt sie schließlich Marguerites Drängen nach, das Mädchen zu betreuen.

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Jean-Pierre Améris‘ neuer Film beruht auf einer wahren Begebenheit aus den 1890er Jahren und steht in der Tradition von Arthur Penns "Licht im Dunkel" und François Truffauts "Der Wolfsjunge", die von unermesslich mühevollem Spracherwerb erzählen. Er ist als taktvoller Überschwang der Sinneserfahrungen inszeniert: jener, die Marie erlebt, und jener, die ihr verwehrt sind. Améris verleiht der erzieherischen Hingabe einen romantischen Zug: "Die Sprache des Herzens" handelt vom Eröffnen von Möglichkeiten.

Marie leistet zuerst erbitterten Widerstand. Nie zuvor wurden ihre Haare gekämmt, musste sie Schuhe tragen oder ein Kleid anziehen. Der Versuch, ihr im Refektorium das Essen mit einem Löffel beizubringen, endet in einem Tumult. In den ersten Monaten machen Marguerite und ihr Schützling keine Fortschritte. Die Montage des Films trägt dieser Entmutigung gewissenhaft Rechnung, ohne den Zeitfluss zu verdicken. Alles darf hier zur rechten Zeit geschehen.

Großartige Hauptdarstellerinnen

"Du hast gute Arbeit geleistet", sagt die strenge Oberin am Ende zu Marguerite. Das stimmt zur Hälfte. Denn dass dies ein wechselseitiger Lernprozess war, bleibt im Film keine gönnerhafte Behauptung. Zwei Menschen haben durch ihr Gegenüber eine neue, fremde Welt entdeckt. Die beiden Hauptdarstellerinnen stehen großartig dafür ein.

Die letzten Jahrzehnte ihres Lebens, klärt uns ein Abspanntitel auf, verbrachte Marie Heurtin als eine begeisterte Leserin und war unschlagbar im Dominospiel. Aus der kleinen, zerbrechlichen Seele wurde eine robuste, weise Seele. 

F 2014. Regie: Jean-Pierre Améris. Buch: Jean-Pierre Améris, Philippe Blasband. Mit: Isabelle Carré, Ariana Rivoire, Brigitte Catillon, Noémie Churlet, Gilles Treton, Laure Duthilleul. Länge: 95 Minuten. FSK: 6. (epd)