Occupy im Frost: "Die Nächstenliebe kommt zurück!"

Occupy im Frost: "Die Nächstenliebe kommt zurück!"
Seit Oktober stehen Zelte vor der Europäischen Zentralbank in Frankfurt am Main. "Occupy Frankfurt" begann bei Sonnenschein. Jetzt, ein Vierteljahr später, herrscht Frost: Minus vier Grad in Frankfurt. Doch die Aktivisten harren immer noch aus. Wärme lässt sich relativ leicht organisieren, stellen sie fest - mit dem Zusammenleben im Camp ist das allerdings schwieriger als sie dachten.
01.02.2012
Von Anne Kampf

Die Küche im Occupy-Lager muss umziehen. Von der alten stehen nur noch Reste, sie hatte ihren Platz direkt unter dem großen blauen Eurozeichen mit den gelben Sternchen, dem riesigen Logo der EZB. Dieses € habe geputzt werden müssen, berichtet die Sozialpädagogin Cigdem Koc vom Infostand. Und beim Putzen sei die Occupy-Küche im Weg gewesen.

Peter Rubach ist Zimmerer und Schreiner. Beim Neubau der Occupy-Küche hat er den Überblick. Über die Schlafsack-Spenden freut sich Peter mit den Worten: "Die Nächstenliebe kommt zurück!"

Die Frankfurter Aktivisten nutzen die Gelegenheit für einen Umbau: Es sei doch ohnehin viel besser, wenn die Küche sich direkt hinter dem Gemeinschaftszelt befinden würde, dann könne man dort zusammen essen, meint Cigdem. Aus Sicht der Frankfurterin gibt es beim Miteinander im Lager noch einiges zu lernen: "Alle wollen Häuptling sein, aber keiner Indianer. Vor allem die Männer."

Die Männer. Hinten im neuen Küchenzelt ist schnell klar, wer der Häuptling ist. Peter, ein Mann mit gebräunter Haut und fröhlichen, dunklen Augen, von Beruf Schreiner und Zimmerer, schleppt Holzplatten herein. Mit Holz kennt er sich aus. Er gibt Moritz Anweisungen, welches Brett wie verschraubt werden muss - und auch, in welcher Reihenfolge sie mit den Journalisten reden. Peter schickt Moritz zurück zu seinem Werkzeugkasten. Moritz fügt sich und schraubt erst mal.

"Das steht doch schon in der Bibel, was hier passiert"

Später ist er dran. Der junge Mann mit den langen blonden Haaren ist ein Idealist - und ein Aussteiger. "Ich bin nirgends gemeldet", erzählt er. Früher hat er als Gas- und Wasser-Installateur den Frankfurter Flughafen mit ausgebaut, jetzt hilft er im Occupy-Camp. Wenn er nicht gerade auf der Baustelle gebraucht wird, macht Moritz in den Arbeitskreisen Musik und Wirtschaft mit. Ach ja, und im AK Facebook.

Moritz Piontek bohrt und schraubt in der neuen Küche. Er ist ein Aussteiger, hat weder Arbeit noch Wohnung.

Sein eigentliches Thema aber ist Solidarität. "Wir machen hier immer eine gemeinsame Frühstücksrunde", erzählt Moritz beim Arbeiten, "und da werden auch kranke Menschen, auch Alkoholabhängige mit aufgenommen. Die werden hier integriert, nicht verachtet." Moritz schaut von seiner Schraub-Arbeit auf und lächelt: "Das steht doch eigentlich schon in der Bibel, was hier passiert! Menschlichkeit, jeder wird mitgenommen, Halt für die Seelen!"

Peter hat zugehört. Jetzt nickt er. "Hier ist jeder Mensch, hier ist jeder Seele, und alle Seelen gehören zusammen!" Allerdings - ganz so einfach ist das nicht mit dem Zusammenleben im Camp, da hat Cigdem schon Recht. "Klar, dass es manchmal Streit gibt", gibt Peter zu. "Hier sind ja Menschen mit unterschiedlicher Herkunft und Mentalität. Deswegen ist uns Vergebung wichtig. Ohne Vergebung geht es nicht." Peter sagt, er sei Christ, aber auch Anthroposoph und ein bisschen Hinduist. Er philosophiert noch ein wenig über die Wanderung der Seelen - bis Moritz es auch einmal schafft, den Häuptling zu unterbrechen: Er hat den Schrauber auf "Bohren" umgeschaltet, es ist einfach zu laut zum Reden.

"Hilfe! Kältewelle erwartet! Bis minus 15 Grad in Frankfurt"

Im chaotisch anmutenden Gemeinschaftsraum steht Abderahen Nagel am Tisch, eine Zitronenhälfte in der Hand. Abderahen erklärt einer Journalistin die genaue Wirkungsweise von Vitamin C im menschlichen Körper. Dann verkündet er strahlend, er sei gläubiger Christ und fragt die Kollegin: "Hast du Angst vor dem Tod?" So läuft ein ganz normales Gespräch im Frankfurter Occupy-Lager. "Es ist eine ernste Angelegenheit hier", sagt Abderahen liebevoll. "Wenn ich Jugendlicher wäre, hätte ich anderes zu tun als mit diesen Chaoten rumzuhängen." Dann wendet er sich wieder seiner Zitrone zu.

Abderahen Nagel ist Christ. Er stellt den Besuchern Fragen nach dem Tod und presst zwischendurch eine Zitrone aus - Vitamin C ist gesund.

Vitamine können sie gebrauchen, jetzt, wo es friert in Frankfurt. Manche halten seit Wochen oder gar Monaten in den Zelten aus, Peter auch, er hat einen dicken weißen Schal umgeschlungen. Tagsüber sei es schlimmer als nachts, bekennt er, denn nachts schläft er im Gemeinschaftszelt, und da gibt es einen Gasofen. Demnächst vielleicht auch Strom: Peter will fünf Fahrräder mit "Riesen-Dynamos" organisieren, so dass die Aktivisten sich warm strampeln und gleichzeitig Energie erzeugen können. Und damit vielleicht auch die Lebensmittel im provisorischen Küchenzelt wieder auftauen - alles ist eingefroren, der Salat, das Wasser, das Obst.

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Auch die Menschen im Camp beginnen zu frieren. Deswegen der Aufruf im Internet: "Hilfe! Kältewelle erwartet! Bis minus 15 Grad in Frankfurt!" Wer helfen wolle, möge bitte kommen und Schlafsäcke, Decken, warme Unterwäsche, Gasheizungen, Luftpolsterfolie, Kerzen und Wärmflaschen bringen. "Warme Worte und Gedanken" seien auch willkommen. Ein paar gelieferte Decken und Schlafsäcke liegen schon in den Ecken des chaotischen Gemeinschaftszeltes, doch besonders viel ist es nicht an diesem Mittwochmittag.

Schlafsäcke und Würstchen von einer Bank-Aussteigerin

Einiges hat Gabi Schoor mitgebracht. Ihr dunkler Kombi parkt mitten auf dem Weg zwischen den Zelten, der Kofferraum ist schon ausgeräumt. Eine große Luftmatratze hat sie gespendet, dazu Decken, Kissen, Geschirr, Dosensuppen und Würstchen. Gerade erkundigt sie sich, was noch gebraucht wird. Sie will mal zu Hause in Dietzenbach herumfragen, wer noch Gerümpel im Keller herumliegen hat. Die blonde Frau im Leopardendesign-Mantel gibt ein seltsames Bild ab zwischen den Occupy-Aktivisten.

Sie ist auf ihre Art auch eine Aussteigerin, arbeitet freiberuflich als Steuerberaterin. Früher war Gabi Schoor in der Kreditvergabe einer Bank tätig und kündigte den Job wegen "Betruges an den Kunden und Mitarbeitern". Die Bank habe unehrliche Werbung gemacht, den Kunden nicht gesagt, wie sie an deren Geld mitverdienen wollte. Gabi Schoor hielt das nicht aus. "Es ist ganz schlimm, was im Moment passiert. Im Gesundheitssystem, im Bankensystem - diese Arroganz! Ich wundere mich, dass nicht ein Aufschrei durch das Land geht." Deswegen unterstützt sie die Occupy-Aktivisten, "die stören doch nicht!"

"Liebe Occupy-Kritiker! Erwartet keine fertigen Lösungen"

Nur optisch könnten sie vielleicht ein kleines bisschen stören, ordnungsliebende Menschen zumindest. Möbel, Hausrat, Essen, Werkzeug, Flaschen, Decken - alles liegt durcheinander im Gemeinschaftszelt und draußen, dazwischen Aktivisten, die sich einen Kaffee nehmen. Eine junge Frau mit einer Rolle Müllsäcke in der Hand ist mit Aufräumen beauftragt und fragt sich, wo sie bloß anfangen soll. Die Aktivisten bringen viel Zeit auf für den Versuch, ihre Infrastruktur zu ordnen.

Cigdem Koc hat gerade dieses Plakat repariert. Zurück am Infostand ordnet sie die Occupy-Flyer. Alles läuft, aber das Zusammenleben im Camp ist trotzdem nicht einfach.

Es funktioniert alles irgendwie: das Essen, das Campen, die Internetpräsenz, die Meetings. Doch die Gedanken zur Rettung der Welt, die lassen sich nur schwer ordnen. Arbeitskreise diskutieren über Wirtschaft, Armut, Demokratie. Was dabei herauskommt, kann nur jeder für sich selbst formulieren. Es gibt keine Sprecher und keine "Wir"-Meinung. Wer eine Ansicht äußert, muss den Satz mit "Ich …" anfangen.

Vorn am Eingang steht ein Plakatständer. Mit Wachsmalern hat jemand auf ein Stück Tapete geschrieben: "Liebe Occupy-Kritiker! Erwartet keine fertigen Lösungen. Helft lieber mit, selbst welche zu finden." Cigdem repariert das Plakat gerade, es war vom Wind heruntergerissen worden. "Wir diskutieren und führen Ideen zusammen, das ist die beste Lösung", meint sie. "Das ist alles ein Lernprozess. Und das Miteinander ist das Schwierigste." 


Anne Kampf ist Redakteurin bei evangelisch.de und zuständig für die Ressorts Politik und Gesellschaft.