Wie benutzt ein Blinder ein Smartphone?

Wie benutzt ein Blinder ein Smartphone?
Am Bildschirm den Überblick zu behalten, fällt selbst sehenden Menschen bisweilen schwer. Doch wie fühlen sich Blinde und Sehbehinderte bei dem Versuch, Internet und Smartphone zu benutzen? Zwar gibt es spezielle Technologien für diese Zielgruppe - angewandt wird sie aber nicht durchgängig.
20.09.2011
Von Thomas Klatt

Grenzenlos informiert sein in allen Lebenslagen – Millionen von Internet-Webseiten und Blogs, mehr als 425.000 Apps für iPhones und iPads, daneben weitere Smartphones, Tablets, Blackberries und andere Multitouch-Technologien, sie alle versprechen den ungehinderten Datenfluss rund um die Uhr. Doch längst nicht alle Menschen kommen in den vollen Genuss der schier unbegrenzten Möglichkeiten der neuen Medien. Trotz zahlloser Appelle der Betroffenenverbände und der staatlichen Barrierefreien Informationstechnik-Verordnung 1.0 (BITV) von 1999 können nicht alle körperlich und geistig oder mehrfach Behinderten von den Segnungen des world wide web profitieren.

"Es ist zum Beispiel wichtig, Bilder zu untertiteln, damit sie von screenreadern gelesen werden können. Überschriften müssen als solche identifizierbar sein. Dieses muss bei der Programmierung von Anfang an berücksichtigt werden. Da kann man Kosten sparen. Das ist ähnlich wie bei einem Hausbau. Es ist meist viel teurer, nachträglich einen Fahrstuhl einzubauen als ihn von Anfang an mit einzuplanen", erläutert Thomas Hänsgen, Stiftungsratsvorsitzender "barrierefrei kommunizieren!" aus Berlin.

"Altlasten" im Netz - besonders PDF-Dateien

Besonders ärgerlich sei etwa das PDF-Format, das etwa bei Behörden immer noch sehr beliebt ist. Grundsätzlich gelten PDF-Dokumente als nicht barrierefrei, da sie etwa von Blinden nicht gelesen werden können. Eine alternative rtf- oder HTML-Version wird aber in der Regel nicht angeboten. Da bei der Erstellung von amtlichen PDF-Dokumenten über Jahre keine Rücksicht auf Barrierefreiheit im Internet genommen wurde, kursieren große Mengen an behindertenunfreundlichen "Altlasten" im Web. Diese müssen nun mit einem hohen Zeitaufwand behindertengerecht nachgebessert werden.

Allerdings, denkt die Behörde mit, so lassen sich neue PDFs mit den aktuellen Office-Paketen durchaus im Vorhinein barrierefrei etwa mit untertitelten Bildern erstellen. Vollständig barrierefrei gilt ein PDF-Dokument erst, wenn es so genannte Tags enthält, die einerseits Informationen über die Dokumentenstruktur, also etwa Überschriften, Listen, Tabellen enthalten, und andererseits die Lesereihenfolge der Textblöcke festlegen.

Oftmals scheint aber bei Behörden immer noch der gute Wille oder eben das Bewusstsein für die Notwendigkeit behindertengerechter Strukturen zu fehlen, oder aber der nötige Druck. Zwar will die Bundesregierung nun endlich nach 12 Jahren die Nachfolgeverordnung BITV 2.0 verabschieden, doch diese gilt nur auf Bundesebene. Die Bundesländer sind davon ebenso ausgenommen wie die Privatwirtschaft. Sanktionsmöglichkeiten gegen behindertenfeindliche bzw. -unfreundliche Internet-Anbieter fehlen nach wie vor. Anders in den USA, dort sind nach section 508 Unternehmen automatisch von öffentlichen Ausschreibungen ausgeschlossen, wenn sie nicht barrierefrei kommunizieren.

Warum geht Deutschland einen Umweg?

Von diesem Standard scheint Deutschland meilenweit entfernt zu sein. Die BITV 2.0 komme eh viel zu spät, bemängelt Klaus-Peter Wegge, Leiter des Accessibility Competence Center von Siemens in Paderborn. Längst gebe es die weltweit seit 2008 anerkannten Web Content Accessibility Guidelines 2.0, in der technische Regeln der Barrierefreiheit für Internet-Anbieter festgelegt sind. Wieso die Bundesregierung einen unnötigen und kostspieligen Sonderweg gehen möchte, sei ihm völlig unverständlich, sagt Wegge, der selbst blind ist. Denn die Liste dringend nötiger Verbesserungen für mehr Barrierefreiheit ist lang.

Eine weitere Hürde stellt etwa die so genannte CAPTCHA-Technologie dar. Sie soll sicherstellen, dass vor dem Computer wirklich ein Mensch sitzt und nicht etwa eine Maschine, die etwa massenweise Spammails durch die Weltgeschichte schleudert. Also stellt CAPTCHA visuelle Aufgaben, die in der Regel nur ein leibhaftiger Mensch vor dem PC lösen kann: Optisch verzerrte zufällig generierte Buchstaben- und Zahlenkombinationen wie etwa "E3i6" oder "Gt4r" müssen erkannt und in ein Eingabefeld übertragen werden, um sich so zu autorisieren. Das klingt kinderleicht, ist aber etwa für stark Sehbehinderte und Blinde, deren screenreader die CAPTCHAs nicht lesen können, schier unüberwindlich.

Nachteile bei Jobsuche und Weiterbildung

Die Folgen der technischen Benachteiligung sind weitreichend. Viele Jobs werden heute nur vergeben, wenn man sich an einem Online-Bewerbungsverfahren beteiligt. Blinde und sehbehinderte Menschen können nur schwer auf den Webseiten von Jobbörsen oder der Bundesagentur für Arbeit navigieren, weil dort viele Formularfelder, Tabellen und Listen eine leichte Navigation unmöglich machen. Lernsoftware ist selten barrierefrei gestaltet, berufliche Fort- und Weiterbildung wird so zusätzlich erschwert. Zwar verfügen viele Behinderte über elektronische Vorlesesysteme, aber oftmals unterstützen die neuesten Browser und Features die schnell veralteten Hilfsmittelhard- und software nicht. Wenn sich die Browserversion automatisch aktualisiert, sind nicht wenige Behinderte von einem Tag auf den anderen vom Internet abgehängt.

Auch die modernsten Multitouch-Technologien, spezielle Apps, Smartphones und Tablets scheinen keine grundlegenden Verbesserungen zu bringen. Technisch könnten die neuen Wundergeräte durchaus behindertengerecht sein, nur die Hersteller und Programmierer denken oftmals gar nicht daran, da der Druck und die Nachfrage des Marktes offensichtlich zu gering sind, oder eben die Vorgaben der Bundesregierung zu lax.

Vorleseprogramme und Gesten-Systeme

Klemens Kruse vom Bundeskompetenzzentrum Barrierefreiheit aus Berlin hat in einer schriftlichen Stellungnahme für den Unterausschuss Neue Medien des Deutschen Bundestages die neuesten Handy-Betriebssysteme überprüft. So gibt es zwar für die aktuelle Symbian S60-Plattform, die hauptsächlich von Nokia eingesetzt wird, behindertengerechte Vorleseprogramme, doch diese kosten allein rund 300 Euro. Das Betriebssystem IOS von Apple hat bereits das Vorleseprogramm VoiceOver integriert. Mit Hilfe eines ausgeklügelten Gesten-Systems lassen sich IOS-Geräte per Touchscreen von blinden und sehbehinderten Menschen selbstständig bedienen.

Allerdings ist man bei dieser Technologie allein auf den Hersteller Apple angewiesen, bemängelt Kruse. Andere Systeme wie Android, Windows Phone 7 und 7.5 (Mango Edition) oder das Blackberry-Betriebssystem blieben weit hinter den Erwartungen behindertengerechter Bedienbarkeit zurück. Aber für den begrenzten Kreis behinderter Menschen, die sich ein hochpreisiges Mobiltelefon leisten und es auch bedienen können, sind die Apps eine enorme Erleichterung und Bereicherung für die Bewältigung ihres Alltags, schreibt Klemens Kruse.

Oftmals sei aber die leichtere Bedienbarkeit auch für Nicht-Behinderte ein Segen, betont Hubert Hüppe, Beauftragter der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen. "Wie können wir die Sprache und und die Menüführung vereinfachen? Es gibt inzwischen eine große Anzahl von Menschen, die deswegen nicht mehr mit der Bahn fährt, weil sie nicht mehr wissen, wie sie am Automaten an einen Fahrschein gelangen können", weiß Hüppe.


Thomas Klatt arbeitet als freier Journalist in Berlin.