Notfälle im Alltag: Wann wir helfen – und wann nicht

Notfälle im Alltag: Wann wir helfen – und wann nicht
Ein Bundesliga-Manager leistet lebensrettende Erste Hilfe – doch wieso ist das alles andere als selbstverständlich? Die Psychologie weiß Antworten.
01.09.2011
Die Fragen stellte Thomas Östreicher

Die Meldung sorgte für Aufsehen: Ernst Tanner, der Manager des Fußball-Bundesligisten 1899 Hoffenheim hat seiner Nachbarin das Leben gerettet. Tanner half der 58 Jahre alten Frau, die unter ihrem Wagen eingeklemmt war. Sie wurde mit einem Rettungshubschrauber in eine Klinik gebracht, nun besteht keine Lebensgefahr mehr.

"Ich habe aber nur getan, was jeder gemacht hätte", sagte Ernst Tanner der "Bild"-Zeitung, und auch Dr. Björn Tesmer aus Schleswig ist überzeugt: "Grundsätzlich wollen Menschen immer helfen." Doch warum tun wir es dann keineswegs immer? evangelisch.de sprach mit dem Gesprächstherapeuten über Notfälle und Hilfsbereitschaft. 

Herr Tesmer, unter welchen Bedingungen leisten wir ohne zu überlegen Erste Hilfe?

Tesmer: Eine klassische Erfahrung lautet: Menschen helfen dann am ehesten, wenn auch andere helfen. Es gibt ein psychologisches Experiment, bei dem einer Gruppe von Menschen in einem Wartezimmer vorgespielt wurde, dass jemand einen epileptischen Anfall erleidet. Das Ergebnis war: Je größer die Gruppe, desto geringer die Bereitschaft, dem vermeintlichen Epileptiker beizustehen. Wenn nur eine einzige andere Person im Raum war, hat sie immer geholfen oder zumindest reagiert, und sei es, dass sie rausrannte und um Hilfe rief.

Bei einem Zwischenfall in der Fußgängerzone oder bei einem Unfall auf der Autobahn mangelt es nie an Gaffern. Ist es so, dass eine Menschenmenge den Einzelnen anonym werden lässt, so dass das Geschehen seine Hilfsbereitschaft nicht mehr so leicht weckt?

Tesmer: Ja, wobei hier noch die Angst dazukommt, die Szene könnte gestellt sein und man könnte Opfer einer Überlistung werden, zum Beispiel eines Trickbetrügers. Unterwegs haben die Menschen ja auch etwas mehr oder weniger wichtiges vor und unterbrechen ihre Reise ungern. Neugierig sind wir zwar alle, und Neugier ist eine Hauptantriebskraft des Lebens und des Lernens. Nur zum Anhalten reicht es dann doch nicht.

Aber eigentlich ist der Mensch doch ein einfühlsames Wesen – widerspricht gleichgültiges Verhalten dem nicht?

Tesmer: Das tut es tatsächlich, und es ist auch ein Stück irrational. Das Einfühlungsvermögen in andere, die sich in Not befinden, ist eben oft geringer als das Bestreben nach eigener Sicherheit und das Verfolgen eigener Ziele. Es ist merkwürdig, aber auf der Autobahn sagen sich viele: Jeder andere könnte anhalten - warum also ausgerechnet ich?

Ausgerechnet beim Familienfest:

lauter Unbeteiligte

 

Ist das innere Unbeteiligtsein ein häufiges Phänomen?

Tesmer: Auf jeden Fall. Beispielsweise passieren viele tödliche Kinderunfälle auf großen Familienfesten. Wenn die Mutter kurz zur Toilette geht und denkt, da sind doch genügend Erwachsene, die auf ihr Kind aufpassen können - das ist genau der Moment, in dem das Kind in den Gartenteich fällt, und keiner hat's mitbekommen. Jeder denkt, die anderen schauen nach dem Rechten, und damit tut es niemand. Ich selbst habe in solch einer Situation grundsätzlich einen anderen Erwachsenen gebeten, kurz auf meine Kinder aufzupassen. Damit war die Verantwortung geklärt.

Gibt es eine Möglichkeit, Hilfsbereitschaft zu trainieren?

Tesmer: Ich kenne jetzt keine speziellen Kurse oder Trainingsprogramme, obwohl es das durchaus geben mag. Grundsätzlich würde es allein schon helfen, wenn man Menschen darüber aufklärt, was in einer solchen Situation geschieht - dass die Menschen schnell in die Verantwortungslosigkeit abdriften, wenn sie zu mehreren sind. Das ließe sich gewiss in der Ausbildung sozialer Berufe integrieren, etwa bei Kranken- und Altenpflegern, Lehrern, Erziehern und Ergotherapeuten, auch in den entsprechenden Studiengängen, also Soziologie, Psychologie, Pädagogik. Da könnte man das überall einbinden. Ich bin sicher, wenn die Leute wüssten, welche Mechanismen da greifen, würde das schon sehr helfen.

Ist das der Ratschlag an zufällige Zeugen eines Notfalls: sich klarzumachen, was in ihnen selbst gerade passiert?

Tesmer: Genau. Und sich dann zu sagen: Ich fange einfach mal an. Denn auch das ist eine übliche Beobachtung: Wenn erst mal einer hilft, kommt häufig noch ein Zweiter und ein Dritter hinzu und hilft ebenfalls. Als Hinzukommender zu einer Notsituation geht es also darum, sich selbst für zuständig zu erklären - sich dafür zu sensibilisieren, das wäre ein Lernziel. Natürlich hat das auch seine Grenzen: Ich bin alleine unterwegs auf einer nächtlichen, verlassenen Straße und sehe vor mir eine merkwürdig erscheinende Unfallsituation - da würde ich vielleicht doch lieber nur die Polizei oder die Feuerwehr anrufen und nicht selbst aussteigen. Aber etwas tun würde ich auf jeden Fall.


Dr. Björn Tesmer ist humanistischer Gesprächstherapeut und Ausbilder mit eigener Praxis in Schleswig.