Jürgen Fliege: "Eine Kirche ohne Mystik geht zugrunde"

Jürgen Fliege: "Eine Kirche ohne Mystik geht zugrunde"
Wie evangelisch ist Jürgen Fliege noch? Seit er sich mit Wunderheilern umgibt und selbst eine teure "Fliege-Essenz" vertreibt, spürt der prominente TV-Pfarrer heftigen Gegenwind. Im Gespräch mit evangelisch.de nimmt er Stellung.
10.08.2011
Die Fragen stellte Thomas Östreicher

Der TV-Pfarrer und der Wunderglaube: Seit die Sektenexpertin Ursula Caberta in ihrem "Schwarzbuch Esoterik" Jürgen Fliege ein hemmungsloses Abdriften in die übersinnliche Ecke vorgeworfen hat, steht der prominente Protestant wieder einmal vermehrt in der Kritik. "Hat Fliege einen an der Klatsche?" fragte die "Bild am Sonntag", und der Geschmähte verteidigt sich: Er sei lediglich im Dialog "mit allem, was es gibt". Manchmal frage er sich freilich, warum der liebe Gott ihm Auseinandersetzungen schicke wie jetzt um seinen "Wörishofener Herbst", eine Tagung, zu der reihenweise Wunder- und Geistheiler erwartet werden. "Vielleicht wählt Gott diesen Weg, um auf Bad Wörishofen aufmerksam zu machen", so Fliege im Gespräch mit evangelisch.de. "Aber ich bin's manchmal leid, für ihn durchs Feuer und durchs Wasser zu gehen."
 

Herr Fliege, im "Schwarzbuch Esoterik" sind Sie mit vielen ihrer Aktivitäten aufgeführt. Wie finden Sie das?

Jürgen Fliege: Das ist ein Rundumschlag gegen jede Form der Spiritualität. Ich wundere mich, dass der Hamburger Senat mit öffentlichen Geldern so etwas unterstützt. Mir tut weh, dass viele Menschen dann doch an mir zweifeln, weil sie nicht prüfen, ob da was dran ist, und dann enttäuschte und verwundete Mails schreiben. Also, dass da an dem großen Kapital, das ein Pfarrer hat, herumgekratzt wird. Zu Frau Caberta kann ich nur sagen: Sie müsste eigentlich der gesamten Christenheit eine Klatsche diagnostizieren, weil wir alle daran glauben, dass man aus Brot und Wein Leib und Blut Jesu Christi machen kann. Aber dafür will sie der Hamburger Senat noch nicht finanzieren. Schaun wir mal.

Verstehen Sie, wenn Menschen sagen, Sie hätten sich sehr weit von den Inhalten der evangelischen Kirche entfernt?

Fliege: ... dann müsste man zeigen, wo. Ich glaube, ich bin deutlicher drauf als 95 Prozent der Pfarrer, die wir haben. Weil ich versuche, die Spiritualität, die wir haben - des Gebetes, der Handlungen, der Symbole -, und die völlig individuellen Glaubenserfahrungen wie Engelerscheinungen, wovon die Heilige Schrift nur so wimmelt, ernster zu nehmen, als nur medizinisch etwas zu verordnen, damit man wieder klaren Geistes wird. Ich als Achtundsechziger entdecke, dass eine Kirche ohne Mystik und ohne Spiritualität zugrunde geht. Und deswegen sind meine Bücher der letzten Jahre der Spiritualität gewidmet und nicht der Esoterik oder so einem Quatsch.

Wie stehen Sie zur Esoterik?

Fliege: Der Johannes Rau hat mal gesagt: "Das sind die Sünden der Kirche." Wenn sich die Menschen seit 150, 200 Jahren aufmachen, außerhalb der Kirche eigene Gotteserfahrungen zu suchen - und das ist das -, dann sind die Kirchen offenbar nicht in der Lage gewesen, ihre Wege, wo man richtige Gotteserfahrungen machen kann, genügend klar zu propagieren. Sie finden ja in der Kirche nur noch, dass man bepredigt wird. Die können ja nicht einmal beten, die evangelische und die katholische Kirche. Die machen dem lieben Gott Vorschläge aus jedem Dorf, wie er Afrika retten soll. Denen fällt gar nicht auf, dass Jesus sich im Grab umdreht, wenn er da liegt.

"Der liebe Gott ist
ein Gangster -
das sagt auch Jesus" 


Meine Spiritualität ist die Spiritualität eines Jüngers Jesu aus dem Bergischen Land. Wenn dann mal von mir gesagt wird, "der liebe Gott ist ein Gangster", dann ist es das, was Jesus sagt. Gotteserfahrungen können die Erfahrungen eines Überfalls von einem Gangster sein. Der kommt mitten in der Nacht und nimmt dir alles. Und wer diese Sprache nicht versteht, der ist einfach eingelullt worden von diesen Kirchensprachen, die nicht mehr lutherisch sind.

Was sagen Sie zum Vorwurf der Kommerzialisierung?

Fliege: Da weise ich darauf hin, dass ich immer Trauungen oder Beerdigungen machen muss, und kriege dafür nie einen Pfennig, wiewohl ich seit 20 Jahren kein Pfarrgehalt bezogen, sondern umgekehrt bezahlt und bezahlt und bezahlt habe und derweil zusehe, wie ich mich selber über Wasser halte. Das heißt, in unserem Land sind wir der Meinung, religiöser Service ist umsonst. Aber wenn man genau guckt, kostet jedes Vaterunser Geld in der Kirche. Und in der Kirche haben wir Lohnprediger, Lohnsänger und Lohntröster. Wir müssen endlich klarmachen, dass Religion Geld kostet. Mein Service kostet kein Geld, und ich verdiene kein Geld. Frau Käßmann hat Millionen verdient durch Gottes Wort.

Bei der Kirche verdienen Sie kein Geld, aber anderweitig doch schon, zum Beispiel durch den Verkauf der "Fliege-Essenz".

Fliege: Wenn ich solche Experimente mache - und nichts anderes ist es ja -, dann sage ich, ich will das mal ernst nehmen, was wir als Glauben haben. Ich will das deswegen ernst nehmen, weil die katholischen Brüder und Schwestern es mit dem Weihwasser ernst nehmen und seit 2000 Jahren sagen, Leib und Blut Jesu Christi sind tatsächlich anwesend im Tabernakel. Ich will das ernst nehmen, weil ich auch in der medizinischen Forschung sehe, dass Wasser tatsächlich wie in der Homöopathie irgendetwas enthält, was vielleicht auch durch Gebete da reingekommen ist. Da müssen wir drüber reden.

"Es geht nicht
ums Geschäft" 


Was ist: Ich führe also einen Dialog, teilweise sehr provokativ. Es geht nicht ums Geschäft; da habe ich viele Tausend Euro verloren. Sondern es geht um Anstöße, um Provokation und eigentlich um die Entdeckung eines vielleicht neuen Weges - Losungen des täglichen Weges, sich selbst zu verabreichen.

Aber es geht doch auch um den Verkauf von Produkten wie Ihrer "Fliege-Essenz".

Fliege: Nein. Ich verdiene an dieser Geschichte erst mal null Komma nix. Dasselbe Produkt gibt es ohne Gebete zum selben Preis bei dieser Pharma-Firma, die es herstellt. Zurück ging es auf ein Angebot von denen, und ich habe gesagt, ich will das mal wahrnehmen, da ist was Wahres dran. Wir müssen reden, ob man in den Dingen des Lebens durch Gebete eine andere Qualität erzeugt. Das tun wir seit 2000 Jahren, aber wenn einer sagt, das machen wir jetzt mal, dann fällt die gesamte Christenheit vom Glauben ab und sagt, nee, das ist Humbug.

Ihren "Wörishofener Herbst", bei dem unter anderem Dutzende von Wunderheilern auftreten, nennen manche einen Esoterik-Kongress. Was meinen Sie dazu?

Fliege: Das tut mir leid, ist es aber nicht. In Österreich gibt es das seit 30 Jahren als "Goldegger Dialoge". Die wissen, dass die Kirche und die Öffentlichkeit in einen Dialog treten müssen - nicht mit Scientologen unbedingt, aber mit allem, was es gibt. Die Kirche kann sich nicht abschotten wie sogar auf Kirchentagen und nur mit sich selber reden und irgendeinem eingeflogenen Bischof aus Namibia. Wie reden wir denn mit den Geistheilern, die nachweislich Erfolge durch Handauflegung haben? Wollen wir die weiter diskriminieren, oder wollen wir sie in unsere Kirchen holen? Wie reden wir denn mit den Engelsforschern?

"Ein Geistheiler gehört
ins Krankenhaus" 


Alle Weiber, die wir in den Kirchen sitzen haben, haben Engelserfahrungen, die dürfen aber nicht reden. (kichert) Sondern der Pfarrer sagt: "Ist verboten." Oder: "Gilt nicht." Unsereiner will Dialog.

Sie wollen Geistheiler in die Kirche holen?

Fliege: Nein, ich habe überhaupt keine Absicht, irgendeinen Menschen in die Kirche zu holen. Aber als Gemeindepfarrer würde ich den Geistheiler, der in meinem Dorf arbeitet, selbstverständlich in die Kirche holen. Der gehört auch ins Krankenhaus. Und da gehören eben nicht nur Geistliche der Volkskirchen rein, da gehören an ihren Erfolgen geprüfte Gesundbeter genauso gut rein. Wir müssen uns für diese Dinge öffnen.

Betreiben Sie nicht Werbung für Pseudo-Heiler, deren Fähigkeiten nicht bewiesen sind?

Fliege: Hallo? Waren Sie schon mal bei einem Hausarzt? Hat der Sie geheilt? Denselben kritischen Maßstab finde ich überall anzuwenden. Es kann ja wohl nicht sein, dass die Hausärzte sich dieser Kritik nicht stellen müssen. Mit Securvita, einer großen Krankenkasse, sind wir unterwegs zu überlegen: Welche Kriterien muss man eigentlich erfüllen, wenn man Geistheiler ist? Oder muss man sie eventuell einem Krankenhaus zuordnen lassen, damit das im Dialog bleibt? Ich finde es gut, dass es Hausärzte gibt, aber im Grunde genommen sind die Tröster.

Wir haben eine eigene therapeutische Tradition in der Kirche, die nutzen wir nicht. Wir tingeln mit dem Deutschen Gewerkschaftsbund mit jedem Thema der Gerechtigkeit durchs Land, aber wir tingeln mit niemandem, wenn es um die Funktion von Beten, Singen, Schweigen, Wandern, Pilgern geht, um glücklich zu werden. Wenn ich da amerikanische Leute nach Wörishofen einlade, die verblüffende Erfolge erzielen … Ich kenne die gar nicht, aber Psychoanalytiker schreiben mir: "Lad die ein, die können es!" Dann muss ich das als Kirchenmann mal angucken.


Thomas Östreicher ist freier Mitarbeiter bei evangelisch.de.