Moltmann: "Nur dumme Menschen lernen aus Katastrophen"

Moltmann: "Nur dumme Menschen lernen aus Katastrophen"
Nachdenken über Religion hatte für Jürgen Moltmann stets politische Relevanz. Der Tübinger Professor, einer der bedeutendsten Theologen des 20. Jahrhunderts, hat sich immer wieder zu aktuellen Fragen geäußert. Und sich dabei selten ein Blatt vor den Mund genommen.
06.04.2011
Die Fragen stellte Barbara Schneider

Heute wird Moltmann 85 Jahre alt. Im Geburtstagsinterview des Evangelischen Pressedienstes (epd) äußert er sich auch über das beginnende ökologische Zeitalter und übt scharfe Kritik an der Reaktion der Politik auf die Nuklearkatastrophe in Japan: "Kluge Menschen lernen durch Einsicht, dumme durch Katastrophen."

1964, also vor rund 50 Jahren, haben Sie Ihre "Theologe der Hoffnung" veröffentlicht. Ein Buch, das wie kaum ein anderes für den gesellschaftlichen Aufbruch in der Kirche stand. Wie politisch ist die Kirche heute?

Moltmann: Die Kirche ist immer politisch. Sie lebt im politischen Raum. Im Gemeinwesen des Volkes ist die Kirche präsent. Und jeder Politiker weiß um diese politische Bedeutung der Kirchen. Nur in den Kirchen wird immer gesagt, das Konservative sei unpolitisch und alles, was ein bisschen mehr links ist, sei eine Politisierung der Kirche.

Wie sieht für Sie denn die Kirche der Zukunft aus?

Moltmann: Die Gemeinde ist die Kritik der Kirche und ihre Zukunft. Wir müssen daher Gemeinde aufbauen. Gemeinde wird von Gemeindegliedern aufgebaut, nicht von Pfarrern. Wir alle sind Laien, jeder Bischof ist ein Laie. Und ein Laie ist ein Mitglied des Volkes Gottes. Ich bin dafür, eine Reform der Kirche von unten zu machen. Betreuungskirche funktioniert immer weniger. Wenn wir in Zukunft in eine multireligiöse Gesellschaft kommen, müssen wir uns von der Staats- und Volkskirche verabschieden. Dann muss die evangelische Kirche freikirchliche Züge annehmen.

Vor welchen Aufgaben steht die Kirche heute?

Moltmann: Viele sehen die Aufgabe der Kirche im interreligiösen Dialog, also darin, sich zu den anderen Religionsgemeinschaften in eine positive Beziehung zu setzen. Das ist sicher wichtig. Ich selbst sehe die Aufgabe aber eher darin, sich mehr zu den säkularen Bewegungen in Beziehung zu setzen - zur Friedensbewegung, zur Ökologiebewegung, zu sozialen Bewegungen für mehr Gerechtigkeit in der Gesellschaft. Auch der Neoatheismus ist eine Herausforderung.

"Wem dieser Banalitätsatheismus

à la Richard Dawkins genügt,

der tut mir einfach nur leid."

Inwiefern?

Moltmann: Die Leute haben offenbar etwas verloren, was sie nicht mehr vermissen. Der Nachkriegsatheismus beispielsweise mit Wolfgang Borcherts "Draußen vor der Tür" war immer ein Protestatheismus. Ein Protest gegen Gott, der so viel Leid in der Welt geschehen lässt. Ein Protest und eine Auseinandersetzung mit Gott aber auch, die sich in den Psalmen des Alten Testaments finden. Aber das ist nicht der neue Atheismus des britischen Biologie-Professors Richard Dawkins. Das ist dieser Banalitätsatheismus. Es gibt wahrscheinlich keinen Gott – "Enjoy life". Wem das genügt, der tut mir einfach nur leid.

Sie waren lange Zeit in der ökumenischen Bewegung aktiv, haben etwa in der Kommission "Faith and Order" des Weltkirchenrates (ÖRK) mitgewirkt. Wie beurteilen sie die Entwicklung der Ökumene heute?

Moltmann: Ich war immer ein fremder Vogel in der Ökumene und nie als Delegierter deutscher Kirchen bei einer der Tagungen. Ich kam zur Ökumene, indem ich etwa vom damaligen Generalsekretär des Ökumenischen Rates der Kirche, Willem Visser't Hooft, berufen wurde. Meiner Einschätzung nach ist der ÖRK jedoch ins Hintertreffen geraten, als der Lutherische Weltbund eine eigene Diskussion über die Rechtfertigungslehre mit Rom vorbereitet hat.

Wie steht es denn um aktuelle Projekte des Weltkirchenrates?

Moltmann: Momentan bereiten der ÖRK eine Konvokation über den Frieden auf der Erde und mit der Erde, also über gerechten Frieden, vor. Das Projekt finde ich sehr gut, obwohl Friede schon als Wort nicht mehr viele vom Hocker reißt. Freiheit wäre das richtige Stichwort gewesen. Im Blick auf die Arbeit des Ökumenischen Rates muss dabei unterscheiden werden zwischen Gemeinden in Afrika und in Europa. In Europa hatten die Kirchen immer das Gefühl, sie müssten die Ökumene unterstützen, aber sie haben die Ökumene nie benutzt, um die eigenen Fragen zu klären. Demgegenüber war die Ökumene in Afrika immer in den Gemeinden lebendig und im Südsudan etwa bei den Friedensabkommen aktiv beteiligt. Die Mühlen der Ökumene arbeiten langsam, aber sie werden schon wieder in Gang kommen.

Mit Blick auf Europa, was müsste hier auf die Tagesordnung?

Moltmann: Wir haben in Deutschland zwar eine Diskussion darum, ob der Islam zu Deutschland gehört, aber nicht, ob die orthodoxen Völker zu Europa gehören. Die Europäische Gemeinschaft ist jetzt ausgeweitet auf Rumänien und Bulgarien, Serbien wird erwartet und Richtung Ukraine und Russland ist sie offen. Gleichzeitig besteht in Europa eine unsichtbare Grenze - die Theodosius-Linie auf dem Balkan - die die lateinischen Völker von den orthodoxen Völkern trennt. Das muss in Europa zuerst zusammenwachsen. Die orthodoxen Völker gehören zu Europa, denn wir haben eine gemeinsame Geschichte. Europa wurde in Konstantinopel geboren und nicht in Rom. Das drängt dazu, dass die westliche und die östliche Christenheit, die abendländische und die morgenländische, zusammenwachsen. (Foto: dpa)

Wie kann es zu einer Annäherung von Ost- und Westkirche kommen?

Moltmann: Dabei müssten vor allem die Themen diskutiert werden, woran sich die Kirchen 1054 getrennt haben. Ich meine den Streit um das sogenannte Filioque, das heißt die theologische Frage, ob der Heilige Geist vom Vater oder vom Vater und vom Sohn ausgeht. Schon auf den Klingenthaler Konferenzen in den Jahren 1978 und 1979 haben wir das Problem theologisch gelöst. Leider wurde vergessen, das in unsere Glaubensbekenntnisse aufzunehmen. Die Vergesslichkeit ist groß. Hinzu kommen historische Kränkungen: Der erste Fall von Byzanz ging auf die Kreuzfahrer aus dem Westen zurück. Die Unterdrückung orthodoxer Klöster und die Zerstörung orthodoxer Kirchen in Rumänien geht auf Österreicher zurück. Das ist die dunkle Seite von Europa. Die orthodoxen Völker haben im osmanischen Reich überlebt, gleichzeitig haben sie Renaissance, Reformation und demokratische Revolution nicht mitgemacht. In dieser Hinsicht haben sie also ein Nachholbedarf.

Wo sehen Sie Gemeinsamkeiten?

Moltmann: Es gibt, glaube ich, heute einen Punkt, wo wir zeitgleich werden: Das ist der Übergang vom modernen Zeitalter in ein ökologisches Zeitalter. Die Orthodoxie hat immer Mensch und Natur als eine Einheit gesehen, während wir in Europa Mensch und Natur gegenüber gestellt haben. Wir können über eine ökologische Welt von der vorindustriellen Zeit, die in der Orthodoxie bewahrt ist, sehr viel lernen für ein nachindustrielles Zeitalter.

"Es regt mich auf, was da in den Köpfen

mancher Politiker vorgeht. Die Risiken der

Kernkraft sind seit 50 Jahren bekannt."

 

Ökologische Fragen sind ja ein brennendes Thema angesichts der Katastrophe in Japan.

Moltmann: Es regt mich auf, was da in den Köpfen mancher Politiker vorgeht. Die Risiken der Kernkraft sind seit 50 Jahren bekannt. Kluge Menschen lernen durch Einsicht, dumme durch Katastrophen. Die Technik kann unfehlbar sein, aber der Mensch ist nicht unfehlbar. Das kann man nicht als Restrisiko bezeichnen. Es ist lächerlich zu behaupten, die Kernkraftwerke sind sicher. Es ist zu hoffen, dass diese Katastrophe zu einem Umdenken führt. Die Katastrophe zeigt die Grenzen, wo man die Hybris lassen und demütig werden muss.

Neben der Auseinandersetzung mit ökologischen Fragen haben Sie in den vergangenen Jahren immer wieder einen sich ausbreitenden Nihilismus beklagt.

Moltmann: Der Verlust der Liebe zum Leben ist dabei das Hauptproblem. Beispielsweise fand man nach den Bombenanschlägen auf die vier Madrider Pendlerzüge im Jahr 2004 Zettel mit dem Inhalt: "Ihr liebt das leben, wir lieben den Tod." Was aber passiert, wenn nicht nur einzelne den Tod lieben und die Welt zerstören wollen, sondern ein ganzes Volk? Wir sitzen doch auf einem Pulverfass. Darum kann diese Liebe zum Leben immer auch in eine Liebe zum Tod umschlagen.

Was ist Ihr Rezept gegen diese Entwicklung?

Moltmann: Die Liebe zum Leben muss gefördert und soziale Gerechtigkeit geschaffen werden. Die Erniedrigung von Menschen in einer Konkurrenzgesellschaft, wo die einen gewinnen und die anderen verlieren, fördert die Liebe zum Leben nicht, im Gegenteil. Man kann diese Aufsteiger- und Absteigergesellschaft auch stoppen und durch eine stärkere Gemeinschaftsbildung ersetzen. "Gott liebt das Leben", das ist christlicher Glaube.

epd

Jürgen Moltmann wurde am 8. April 1926 in Hamburg geboren. Krieg und Gefangenschaft haben den späteren Theologen geprägt. Als Flakhelfer im Zweiten Weltkrieg erlebt er den Tod eines Schulfreundes aus unmittelbarer Nähe. "In dieser Nacht habe ich zum ersten Mal in meinem Leben nach Gott geschrien und mein Leben in Gottes Hände gelegt", schreibt er in seiner Autobiografie. Große Bekanntheit erlangte Moltmann, der aus einer atheistischen Lehrerfamilie stammt, in den 1960er Jahren durch seine "Theologie der Hoffnung". Christlicher Glaube, so seine Überzeugung, hat stets gesellschaftliche Relevanz. Beruflich war Moltmann zunächst an der kirchlichen Hochschule in Wuppertal tätig, ehe er 1963 nach Bonn berufen wurde. Von 1967 bis zu seiner Emeritierung 1994 lehrte er in Tübingen, wo er bis heute lebt. Zahlreiche Vortragsreisen hat Moltmann, der mit der feministischen Theologin Elisabeth Moltmann-Wendel verheiratet ist und vier Kinder hat, in alle Welt unternommen.