Straßenkinder: "Arbeit, das ist auch voll der Stress"

Straßenkinder: "Arbeit, das ist auch voll der Stress"
"No Future": Rund 7.000 bis 8.000 Minderjährige haben nach Schätzungen der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe ihren Lebensmittelpunkt auf der Straße. Vorwiegend handelt es sich dabei um Jugendliche, die versuchen, aus den Zwängen des Elternhauses auszubrechen. Ihre Zahl ist in den vergangenen Jahren stark gestiegen. Dabei handelt es sich beileibe um kein Phänomen, das nur in Großstädten angesiedelt ist.
23.02.2011
Von Marijana Babic

Experten sehen in den Zahlen eine Konsequenz der Hartz IV-Reformen, die schlechtere Bildungschancen eröffnen und Perspektivlosigkeit begünstigen. Offizielle Statistiken zu den Straßenkindern gibt es nicht, denn niemand zählt sie über die Schätzungen der Hilfsorganisationen hinaus.

Mit elf Prozent wird dabei der Anteil der Kinder an den Obdachlosen beziffert, die mit einem Elternteil unterwegs sind und Schutz in einschlägigen Unterkünften suchen. Die Jugendlichen hingegen, die als Straßenkinder bezeichnet werden, gehen zum Teil noch zeitweise zum Schlafen zurück nach Hause, berichtet Verena Senke, stellvertretende Leiterin der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe. Doch da in den Elternhäuser der Jugendlichen spezifische Problematiken wie Gewalt, Sucht oder Vernachlässigung herrschten, zögen sie das Leben auf der Straße vor oder würden von den Eltern rausgeworfen.

Zum dritten Mal abgehauen aus der ausweglosen Situation

Aus ähnlichen Verhältnissen stammt der 17-jährige Stefan. Er ist ohne Ausbildung und ohne Obdach. Vor einigen Wochen ist er von zu Hause ausgerissen. Nun tingelt er durch die Republik, kehrt zwischendurch in die badische Heimat zurück. Aber zurück zu den Eltern? Niemals. Stefan steht eine Straßenkarriere bevor. Seine auffällige Erscheinung steht dabei für seine Lebensphilosophie: Nietenjacke, Irokesenschnitt, grellbunte Jeans, denn Stefan ist Punk. "Punk, das ist für mich Zusammenhalt, Freiheit, Freundschaft und das Gefühl, anders zu sein", schwärmt der 17-Jährige, "Die Punk-Bands der 60er, 70er und 80er Jahre, das sind meine Idole."

Zu Hause sei er mit den Eltern nicht klargekommen, erzählt er mit der Bierdose in der Hand, während wir auf einer Parkbank sitzen. Der Vater habe auch manchmal kräftig zugeschlagen. Der Stress habe dabei mit der Pubertät und der Hinwendung zum Punk begonnen. Die Eltern wollten ihm unter anderem verbieten, zu Punkkonzerten zu gehen – wegen der Nazis. Da Punks traditionell links ausgerichtet sind und Nazis wiederum die rechte Szene verkörpern, ist ein Aufeinanderprallen der beiden Gruppen oft von Gewalt und Ausschreitungen geprägt. Die beiden Szenen sind von Grund auf verfeindet.

Doch die ständigen Debatten um seine Einstellung und die Bedenken der Eltern, das war auf Dauer eine Situation, die Stefan als ausweglos empfand: "Ich hatte auch keinen Bock auf Heim, Jugendamt und trallalla, deswegen bin ich abgehauen. Schon zum dritten Mal jetzt." Und obwohl er bereits seit Wochen von zu Hause weg sei, hätten seine Eltern ihn nicht einmal auf Handy angerufen. Dabei hatte er sogar zeitweise eine Schreinerlehre begonnen, doch diese endete abrupt, denn Stefans ständiges Zuspätkommen wurde nicht geduldet: "Na ja, die haben mich rausgeschmissen." Einmal habe er auch Angst gehabt, von der Polizei aufgegriffen zu werden, berichtet der junge Punk: "Da war am Bahnhof Ausweiskontrolle, aber ich bin noch mal davongekommen."

"Ich lebe für die Freiheit"

Wie er die Tage und Nächte verbringe? "Ich geh schnorren, treffe Freunde, trinke Bier, kiffe, aber auch nicht immer." Nachts übernachte er in Banken oder in Zügen, wie es sich eben ergebe. Sein nächstes Ziel sei Berlin, inzwischen sei er auch in Köln, Amsterdam und Paris gewesen. Ob ihn dieses Leben nicht belaste? "Momentan nicht. Mein Kumpel ist 30 und macht das schon lange, aber er sieht immer noch aus wie 20." Mit diesem Argument ist für Stefan der Fall vorerst erledigt.

Nach einigem Nachdenken räumt er aber ein: "Ich bin schon ein schwieriges Kind." Wie er sich die Zukunft vorstelle? "Ich bin no future", sagt der 17-Jährige lapidar, "ich will nur leben, nicht nachdenken. Weil Arbeit, das ist auch voll der Stress." Auch wenn wohlmeinende Streetworker auf ihn zukämen, nehme er die Hilfsangebote nicht an. "Die geben einem die Visitenkarte und sagen, 'Melde Dich doch mal, wenn es Probleme gibt', aber das mach ich nicht. Ich lebe für die Freiheit."

Ursprünglich stammt der 17-Jährige aus Bruchsal in Baden-Württemberg. Sein Weg führte ihn über Karlsruhe ins nahe gelegene Offenburg, schließlich quer durch die Republik und ins europäische Ausland. Zum Zeitpunkt unseres Treffens befand er sich in der Stadt Hornberg unweit von Offenburg und wollte auf ein Konzert in das benachbarte Schramberg im Kreis Rottweil. Unterwegs traf er auf Gleichgesinnte, die zwar seine Lebenseinstellung teilen, aber nicht obdachlos sind. Für das Foto lässt er sich zehn Euro geben: "Danke. Das bringt mich schon mal weiter."

Der Zugang zu den Gruppen ist schwer

Auch in der 60.000 Einwohner zählenden Stadt Offenburg, wo sich Stefan länger aufhielt, bemühen sich Streetworker der Stadt und des St. Ursulaheims, einer Einrichtung für Obdachlose, um die Jugendlichen, denn immer mehr Menschen unter 25 Jahren bleiben statistisch gesehen ohne Wohnung. Vermutet wird, dass die Hartz IV-Reformen zu den mangelnden Lebensperspektiven beitragen, wie Aki Kiokpasoglou, Sozialpädagoge, Streetworker und stellvertretender Heimleiter des St. Ursulaheims, sagt.

"Wir haben im Schnitt rund 50 Personen unter 25 Jahren ohne Obdach bei uns in der Stadt", berichtet Bernhard Schneider von der Stadt Offenburg, Leiter des Fachbereichs Bürgerservice und Soziales. "Meistens kommen die Jugendlichen in Cliquen hinein, wo sich ein Wir-Gefühl entwickelt", ergänzt ein Sprecher des Jugendamtes, "dann entscheiden sie sich, ihr von Sucht, Gewalt oder Vernachlässigung geprägtes Elternhaus gegen die Straße einzutauschen." Der Zugang zu ihnen sei schwer, denn in den Cliquen von Gleichgesinnten fänden die Jugendlichen die Geborgenheit und Anerkennung, die sie suchten. Auch eine Punk-Gruppe sei in Offenburg bekannt.

"Komplexe Probleme" hinter dem Leben auf der Straße

Marcel Karow ist dabei als Streetworker der Stadt unterwegs und leistet aufsuchende Arbeit, denn selten finden sich Jugendliche von sich aus in seinem Büro in der Offenburger Hauptstraße ein: "Im Schnitt habe ich mit 80 bis 100 Jugendlichen Kontakt. Ein Teil davon ist obdachlos." Ob es schwer sei mit den Betroffenen ins Gespräch zu kommen? "Unterschiedlich", sagt Karow, "bei den meisten stehen komplexe Probleme hinter ihrer Wahl, als Straßenkind zu leben."

Doch auch die Cliquen, die sich mitunter bilden, sind keine festen Gebilde: Die Mitglieder befinden sich meist auf Wanderschaft. Und wie bei Stefan gibt es kein Nachdenken darüber, wie es weitergehen soll. Denn das Morgen ist erstmal unwichtig.


Marijana Babic ist freie Autorin und schreibt unter anderem für evangelisch.de.