Aleviten: "Das wichtigste Buch ist der Mensch"

Aleviten: "Das wichtigste Buch ist der Mensch"
Religionswissenschaftlich zählt das Alevitentum zu den synkretistischen Glaubensgemeinschaften. Das Buch "Aleviten in Deutschland", herausgegeben von der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen, berichtet über die "Geburtswehen einer Religionsgemeinschaft".
09.02.2011
Von Thomas Klatt

Der Islam-Referent der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen EZW, Friedmann Eißler, beobachtet mit Staunen, dass sich die bis zu 800.000 Aleviten in Deutschland vor 20 Jahren erstmals in ihrer Geschichte zu einem eigenen Verband zusammengeschlossen haben: zur Alevitischen Gemeinde. Nicht nur die Einrichtung eines eigenen Religionsunterrichtes in mehreren Bundesländern trage zu einem ganz neuen Selbstbewußtsein bei. Auch die gemeinsame Leiderfahrung der vor allem in der Ost-Türkei lebenden rund 20 Millionen Aleviten schaffe eine Verbindung untereinander.

"Ein markanter Punkt ist das Massaker vom Juli 1993 in der türkischen Stadt Sivas, in der damals 37 alevitische Künstler und Literaten bei einem Hotelbrand umkamen. Es wurde von einem türkisch-sunnitischen Mob mehr oder weniger gefeiert. Das ist eine traumatische Erfahrung, die die Aleviten bis heute sehr prägt", weiß Eißler. Das andere verbindende Ereignis sei die Ausstrahlung eines ARD-Tatorts Ende 2007 gewesen. In dieser Folge wurden alte Vorurteile der türkisch-sunnitischen Mehrheit kolportiert, die Aleviten seien ungläubig und trieben in ihren Versammlungsräumen, den so genannten Cem-Häusern, Unzucht, da Männer und Frauen gleichberechtigt nebeneinander beten. Daraufhin gingen Aleviten in Deutschland unter Protest auf die Straße.

Wurzeln in der islamischen Mystik

Für Eißler sind all dies "Geburtswehen einer Religionsgemeinschaft", Grund genug für die Evangelische Zentralstelle für Weltanschauungsfragen, nun eine 180 Seiten starke Anthologie zu den Aleviten in Deutschland herauszugeben, in der sowohl christliche Theologen als auch Aleviten selbst zu Wort kommen. Religionswissenschaftlich kann man das Alevitentum als eine synkretistische Glaubensgemeinschaft betrachten. Eine der Hauptwurzeln findet sich in der islamischen Mystik um den Sufi-Ordengründer Haci Bekta? Veli aus dem 13. Jahrhundert. Bis heute ist das Alevitentum daher von einer großen Privatheit und anders als im Mehrheitsislam kaum von einer öffentlichen Zurschaustellung des eigenen Glaubens geprägt.

Es geht um eine große Innerlichkeit und persönlichen Verbindung zum Göttlichen. "Das wichtigste Buch zum Lesen ist der Mensch selbst", ist einer der berühmtesten Aussprüche von Haci Bekta? Veli. Ähnlich wie bei den christlichen Mystikern Hildegard von Bingen oder Meister Eckhart geht es um die Suche nach Vervollkommnung in der Einheit mit Gott, um die unio mystica in der stillen Versenkung. Die Aleviten gerieten jedoch nicht nur aus Glaubensgründen in Konflikt mit dem Mehrheits-Islam.

Außerislamische Einflüsse

Früher hießen sie K?z?lba?, also Rotköpfe wegen der roten Kopfbedeckung. Im Iran installierten sie das schiitische Regime der Safawiden mit und gerieten damit in Konflikt zu den Sunniten. Die Aleviten standen also auch politisch immer dazwischen", weiß Eißler. Denn die Ye?ilba?, die ottomanischen Grünhüte, versuchten von Anfang an, die rothütigen Aleviten zu unterdrücken und ihrem sunnitischen Mehrheitsislam einzuverleiben. Auch wenn die Aleviten wie die Schiiten sowohl Mohammed als Propheten als auch den Prophetenschwiegersohn Ali als ersten Imam anerkennen (türkisch Alevî für "Anhänger Alis", nicht zu verwechseln mit der schiitischen Gemeinschaft der Alawiten), so sind die außerislamischen Einflüsse bis heute unverkennbar.

"Aus dem Osten ist die Vorstellung der Seelenwanderung eingegangen, also eine Reinkarnationsvorstellung. Hinzu kamen schamanistische Elemente, die heute noch in den alevitischen Tänzen zu erleben sind. Christliche Einflüsse wurden mit der trinitarischen Vorstellung einer göttlichen Dreieinigkeit aufgenommen: Hak, das ist die Wahrheit oder das Göttliche, Mohammed der Prophet und Ali, der erste Imam. In allen leuchtet das göttliche Licht, das sich im Grunde auch in jedem Menschen wieder findet, weshalb man allen Mitbewohnern mit Respekt und Achtung begegnen soll", fasst Eißler die Referate im vorliegenden Heft zusammen.

Junge Aleviten entdecken ihren Glauben neu

Im Grunde kommt das Alevitentum ganz ohne Gottesbegriff aus. Das Göttliche findet sich pantheistisch in der Natur und vor allem im Mitmenschen. Nicht wenige Aleviten sehen sich daher gar nicht als Muslime. Andere wiederum definieren das Alevitentum als den einzig wahren, weil allein auf die Mitmenschlichkeit, Wissen, Bildung und Vernunft konzentrierten Islam. Weder beten Aleviten fünf Mal am Tag, noch treten sie die Pilgerfahrt nach Mekka an oder fasten im Monat Ramadan. Weder der Koran noch die Hadithe, die Sammlung über die Taten und Sprüche Mohammeds, werden als heilige Schriften anerkannt.

Nicht nur Juden und Christen, sondern auch andere Religionsanhänger, selbst Religionslose werden anders als im Mehrheits-Islam toleriert. Der Genuss von Alkohol ist nicht verboten. Männer und Frauen feiern und beten gemeinsam im Kreis sitzend im so genannten Cem-Haus. Über Jahrhunderte konnten die Aleviten diese Traditionen in der Ost-Türkei nur im Verborgenen pflegen. Jetzt in der deutschen Diaspora und Freiheit würden vor allem die jungen Aleviten ihren Glauben neu entdecken.

"Sie haben einen ethischen Weg, der im Grunde an den sufischen Weg der Entwicklung angelehnt ist, 4 Tore und 40 Stufen. Aber all diese Unterschiede blieben in der Türkei unter der Decke. Ich habe Aleviten getroffen, die gesagt haben, ich wusste zwar, dass ich Alevit bin, aber ich wußte nicht, was das ist", berichtet Eißler. Sein Leben lang über 40 Jahre soll ein Alevit auf vier verschiedenen Daseinsstufen der Selbsterkenntnis nach Vervollkommnung streben: Geduldig sein, Achtung haben, sich in die Gemeinschaft einfügen mit dem Ziel, am Ende seines Lebens Einvernehmen mit dem Göttlichen zu zeigen.

Verstehen sich die Aleviten als Teil des Islams?

Erst allmählich finde nach jahrhundertelanger mündlicher Tradition im Verborgenen so etwas wie eine Verschriftlichung und Systematisierung der alevitischen Lehre statt. Zentral bleibe dabei die Frage, ob die Aleviten sich künftig selbst als Teil des Islam verstehen oder nicht. "Wäre der Islam hier nicht so umstritten, dann würde es Aleviten leichter fallen, sich als Muslime zu verstehen. Aleviten nutzen so zu sagen die Chance, um sich zu distanzieren und nicht als Muslime in den Terrorismusverdacht zu kommen. Sie wollen lieber als humanistische Bewegung verstanden werden", ahnt EZW-Referent Friedmann Eißler. 


Friedmann Eißler (Hg.), Aleviten in Deutschland, Grundlagen, Veränderungsprozesse, Perspektiven, 180 Seiten, EZW-Text 211. Zu bestellen unter Evangelische Zentralstelle für Weltanschauungsfragen, Auguststraße 80,10117 Berlin, Tel.: 030/ 283 95-211, info@ezw-berlin.de