Grefraths Abschied aus der dunklen Wolke der Angst

Grefraths Abschied aus der dunklen Wolke der Angst
Mit einem Gottesdienst nimmt die Gemeinde Grefrath heute abend Abschied von Mirco. Das Verschwinden des Jungen hatte die Menschen in Grefrath lange Monate im Griff. Pfarrer Helmut Boecker aus Grefrath hat für evangelisch.de seine Gedanken an diese Zeit aufgeschrieben.
03.02.2011
Von Hartmut Boecker

"Kommt Ihr morgen zum Trauergottesdienst?" frage ich gerade meine Konfirmanden. "Ganz Grefrath kommt!" heißt die Antwort. Am Donnerstag wollen wir Abschied nehmen, von Mirco. Würdig, klar, aber wie macht man das, wenn wirklich viele kommen wollen?

Warum so viele kommen wollen? Warum hat Mircos Verschwinden so viel Aufsehen erregt? Er war nicht der erste, er wird nicht das letzte Kind sein. Mircos Verschwinden war für uns ein echter Schock. "In Grefrath ist die Welt noch in Ordnung!", dass habe ich hier tausendmal gehört. Nach Grefrath ziehen viele, wenn sie den großen Städten Krefeld, Duisburg oder Düsseldorf entkommen wollen, "Hier können wir unsere Kinder laufen lassen, uns ein Häuschen mit Garten leisten", erzählten mir viele. Bis zum 3. September. Am 3. September verschwand nicht nur Mirco, am 3. September zerbrach auch der Traum, dass die Welt in Grefrath noch in Ordnung ist.

Eine dunkle Wolke aus Angst

Seitdem hatte ich oft den Eindruck, dass Grefrath wie unter einer dunklen Wolke lag. Zuerst kamen Hubschrauber und Hunde und suchten, Stunden, Tage lang. Jedes Gespräch auf der Straße begann: "Gibt's was Neues?" Zuhause schauten wir alle ins Internet, in den Videotext, und wenn wir schnell mal etwas einkaufen gingen, kursierten schon wieder neue Gerüchte. "Mirco ist gefunden!" (mindestens drei Mal) - "Herr X ist verhaftet" (mindestens vier Mal) - oder "Sie fahren ja auch einen dunklen Kombi?!".

Eine dunkle Wolke aus Angst, Gerüchten, Verdächtigungen, eine dunkle Wolke, die nicht wegziehen wollte. Jeden Tag gab es Neues, Berichte, Informationen, an den Fundorten von Mircos Kleidung wurden Hinweisschilder aufgestellt: "Die Soko Mirco sucht Zeugen", jeden Tag fahren wir an diesen Schildern vorbei, nachts beleuchtet. Eine dunkle Wolke, die schwer macht, bedrückt und die doch festgehalten wird, über Monate.

Irgendwie spüren die Menschen in Grefrath, dass der Druck steigt, auf alle, aber vor allem auf den einen. Den, der weiß, wo Mirco ist. Grefrath trauert um Mirco, weil viele ihn kannten, weil seine Eltern beliebt und bekannt sind. Beim Familienfest im Eisstadion haben meine Kinder mit den Kindern der Familie S. Stockbrot gebraten. Grefrath trauert um den Traum von der heilen Welt und deshalb wird der Druck ausgehalten.

"Warum sucht die Polizei auf den Feldern, und nicht in den Gärten?" – "Wieso werden keine DNA-Proben genommen, wir haben nichts zu verstecken", fragen die Grefrather und kochen für 1.000 Polizisten Kaffee.
Druck aushalten, nicht wissen, ob man trauern soll, ob doch noch ein Wunder geschieht und Mirco lebend gefunden wird? Das war für viele sehr, sehr schwer.

Grefrath trauert nicht allein

Ich habe schon den Eindruck, dass dieser Druck hier in Grefrath viele zusammengeschweißt hat und dass die Familie S. alle durch ihre Stärke in ihrem Glauben beeindrucken. Grefrath trauert, aber Grefrath trauert nicht allein. Wir bekommen Briefe und Anrufe von überall. "Habt ihr einen alten Bunker?" aus Bayern, Hamburg… "Wir beten für euch!" – "Ich hatte einen Traum, schaut doch mal nach!" – "Bei uns war es ähnlich!" Beileid, Mitleid, Gebete und jede Menge Presse.

Am Erinnerungstag für die Opfer des Holocaust wurde Mirco gefunden. Die Andacht am Gedenkstein war gerade zu Ende, da wurde berichtet. Ich spüre einen dumpfen Schlag auf den Magen, gegen alle Wahrscheinlichkeit habe ich doch noch gehofft. Ich spüre aber auch Erleichterung, dass der Druck, die Anrufe, die Aufmerksamkeit jetzt ein Ende haben. Dass wir jetzt wissen, dass wir trauern dürfen.

Wie nehmen wir würdig Abschied, wenn so viele mit uns gebetet, gesucht, getrauert haben? Ich möchte die Vielen einladen. Ihr habt an Mirco und an uns gedacht, für uns gebetet, mit uns geweint? Dann seid auch beim Abschied dabei!

(Grefrath nahm am Abend des 3. Februar in einem Gottesdienst Abschied von Mirco.)


Pfarrer Hartmut Boecker ist evangelischer Pfarrer in der Gemeinde Grefrath.