Das Atom-Dilemma und die Grenzen der Flexibilität

Das Atom-Dilemma und die Grenzen der Flexibilität
Seit Januar gilt das Gesetz für längere Atomlaufzeiten. Die Produktion von Ökostrom nimmt zu. Da die Strommenge je nach Wind und Sonne schwankt, müssen die Meiler häufiger herauf- und heruntergeregelt werden. Für RWE ist das kein Problem. Experten warnen allerdings vor großen Risiken.
02.02.2011
Von Georg Ismar und Tim Braune

Gerd Jäger möchte manchmal am liebsten aus dem Fenster springen. Etwa wenn gesagt wird, längere Atomlaufzeiten erhöhten das Kinderkrebsrisiko. "Ich finde es unverantwortlich, wie mit den Ängsten der Menschen umgegangen wird", sagt der RWE-Vorstand und Verantwortliche für die Kernenergiesparte. Er reicht eine Broschüre des Atomforums über den Tisch. Zu lesen sind darin Sätze, die Atomgegner auf die Palme bringen: "Eine computertomographische Untersuchung verursacht eine höhere Strahlenbelastung als 1.000 Jahre neben einem Kernkraftwerk zu wohnen."

Der drahtige Top-Manager sitzt im RWE-Vorzeige-Kernkraftwerk Emsland im niedersächsischen Lingen und preist die Vorzüge der Kernenergie, etwa angeblich dämpfende Effekte auf den Strompreis. Dass Atomstrom künftig die Netze verstopfe, sei Quatsch. Niemand rüttele am Einspeisevorrang für erneuerbare Energien. Solar- und Windstrom hätten weiter Vorfahrt.

Flexibilität ist kein Problem

Um zu zeigen, dass die Flexibilität für die deutschen Atommeiler kein Problem ist, führt Jäger durch das Kernkraftwerk Emsland. Im Umkleideraum sind alle gleich, vom Reaktorfahrer bis zum Vorstand muss sich jedermann entkleiden und blaue Einheitsunterwäsche anziehen. Statt in feinem Zwirn, steht Jäger wenig später im orangefarbenen Strahlenanzug, mit weißen Schuhen und Handschuhen startklar vor der Reaktorschleuse. "Der geht auch irgendwann nach Konrad", sagt er mit Blick auf den Anzug. Auch dieser wird also sein Ende finden in dem Endlager für schwach- und mittelradioaktive Abfälle bei Salzgitter.

Zum Öffnen der Schleuse ist die 2223 zu wählen. Strahlenmessgeräte sollen ein beruhigendes Gefühl vermitteln - bis zum Verlassen des Reaktors ändert sich die Anzeige nicht: Es ist eine lange Reihe von Nullen. Jäger betont, und da hat er die Macht der Fakten hinter sich, dass die deutschen Kernkraftwerke die sichersten der Welt seien. Arbeitsunfälle 2010 im Akw Emsland? "0". Auf der Internationalen Bewertungsskala für nukleare Ereignisse (INES-Skala) habe es in Deutschland bisher fast nur 0-Ereignisse geben, also ohne oder mit nur geringer Sicherheitsrelevanz. Den Höchstwert 7 ("Katastrophaler Unfall") gab es bisher ausschließlich für den Tschernobyl-Gau im April 1986.

Jäger und der Chef der Anlage, Horst Kemmeter, betonen, dass die deutschen Kernkraftwerke ganz andere Sicherheitsstandards hätten. In Lingen werden jährlich rund elf Milliarden Kilowattstunden Strom bei einer Zeit- und Arbeitsverfügbarkeit von über 90 Prozent produziert. Das bedeutet Strom für 3,5 Millionen Haushalte. Der Druckwasser-Reaktor funktioniert dabei wie eine Art Schnellkochtopf. Wasser wird im Reaktorkern erhitzt und gibt in einem Dampferzeuger seine Wärme an einen getrennten Wasser-Dampf-Kreislauf ab. Über ihn werden Turbinen angetrieben, die die Energie in Strom umwandeln.

Systemkonflikt zwischen dem grünen Strom und der Kernenergie

Zuletzt war das weniger als die Turbinen schaffen könnten. Nicht wenige befürchten wegen des bereits knapp 20-prozentigen Ökostromanteils einen Systemkonflikt zwischen dem so genannten grünen Strom und der Kernenergie. "Der Einspeisevorrang für die erneuerbaren Energien schmerzt die Konzerne am meisten und stellt sie vor riesige Probleme", sagt der Geschäftsführer eines Stadtwerkeverbunds.

Hierin liegt einer der größten Knackpunkte durch die im Schnitt zwölf Jahre längeren Laufzeiten. Diese bescheren der Atomkraft dank Union und FDP eine Zukunft bis 2035 oder gar 2040. Jäger deutet auf Diagramme mit heftigen Ausschlägen nach oben und unten. "Die Sonne geht nicht nachts auf, nur weil es im Energiekonzept steht", betont er mit Blick auf die schwankende Stromerzeugung aus Öko-Energien.

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Gleich am 1. Januar, dem Start des reformierten Atomgesetzes, das SPD, Grüne und Linke vom Bundesverfassungsgericht annullieren lassen wollen, musste das Kernkraftwerk in Lingen von 1.400 Megawatt (MW) Leistung um 800 MW und damit um mehr als die Hälfte heruntergefahren werden. Der Grund: Am Neujahrsmorgen wurde kaum Strom verbraucht, aber Starkwind ließ die Produktion nach oben schnellen. Da Ökostrom Vorfahrt hat, musste die Atomstromproduktion gedrosselt werden.

Der Kernenergieexperte Wolfgang Renneberg warnt vor Risiken, wenn die Akw künftig stärker rauf- und runtergeregelt werden. "Die dadurch zunehmende Ermüdung von Anlagenteilen ist ein großes Problem", sagt der frühere Leiter der Abteilung für Reaktorsicherheit im Bundesumweltministerium (1998-2009). Ob bei Rohrleitungen, Ventilen oder bei Pumpen: "Die Sicherheitsreserven der Anlage nehmen durch diese Belastungen deutlich ab", sagt Renneberg. Gerade die teils schon über 30 Jahre alten Atomkraftwerke seien für einen flexiblen Betrieb nur bedingt ausgelegt.

Renneberg wirft Umweltminister Norbert Röttgen (CDU) vor, öffentlich die Risiken durch die stärkere Regelung der Atomkraftwerke zu negieren, obwohl erforderliche Untersuchungen nicht vorliegen. Es gebe bisher noch nicht einmal Simulationen und Berechnungen, aus denen sich die Anzahl und die Intensität der künftigen Lastwechsel der Akw ergäben.

"Gorleben ist ein jungfräulicher Salzstock"

Jäger warnt vor Panikmache, die deutschen Kernkraftwerke seien auch für einen sogenannten Lastfolgebetrieb konzipiert worden. Er steht nun drinnen im Nuklearbereich. Dort ist es heiß, gebrauchte und neue Brennelemente schimmern im azurblauen Wasser. Kein Staubkorn ist in der hermetisch gesicherten Anlage zu sehen. Der 1988 ans Netz gegangene Meiler gehört zu den jüngsten in Deutschland und bringt RWE weniger Negativschlagzeilen ein als die zwei Biblis-Blöcke. "Biblis hat eine überdurchschnittlich hohe Anzahl von meldepflichtigen Ereignissen. Hinzu kommt, dass durch das Alter beider Reaktorblöcke die Gefahr von Materialermüdung immer größer wird", sagt etwa die rheinland-pfälzische Umweltministerin Margit Conrad (SPD).

Weil es bisher keine ausreichenden Speicherkapazitäten gebe, um überschüssige Wind- oder Sonnenenergie zu speichern und so die Schwankungen auszugleichen, sei die in ihrer Stromproduktion zu 100 Prozent planbare Kernenergie vorerst unverzichtbar, betont RWE-Vorstand Jäger. Rund 100 Meter neben dem Reaktor in Lingen steht das streng abgesicherte Zwischenlager. 32 Castoren mit radioaktiven Abfällen stehen hier, es ist noch genug Platz in der Betonhalle für den Müll aus längeren Laufzeiten. Angesprochen auf die ungelöste Frage, wo die Castoren mit der bis zu eine Million Jahre lang strahlenden Fracht mal hinkommen sollen, ist Jägers Urteil auch hier genauso eindeutig wie das exakt entgegengesetzte Urteil der Kritiker.

Der Salzstock in Gorleben sei nicht vom Himmel gefallen, sagt Jäger, sondern unter 140 Standorten ausgewählt worden. Es sei unverantwortlich, immer den Vergleich mit dem maroden Lager Asse für schwach- und mittelradioaktive Abfälle zu ziehen - die Asse sei vorher als Bergwerk genutzt worden und der Salzstock durchlöchert, Gorleben hingegen sei ein noch jungfräulicher Salzstock.

Abbezahlte Atommeiler sind Gelddruckmaschinen

Jäger nimmt Sorgen ernst, ist aber zugleich auch restlos überzeugt vom Segen der Technologie, er blickt fast neidisch nach Frankreich, wo die Kernenergie kaum umstritten ist. "In Deutschland hofften die Befürworter der Kernenergie lange, mit der Zeit würden neue Generationen nüchterner mit dem Thema umgehen", schrieb jüngst der frühere Vorstand des Nuklear-Forschungszentrums Jülich, Gerd Eisenbeiß, in der "Süddeutschen Zeitung". "Das war ein Irrtum, es wurde übersehen, wie stark zum Beispiel die Physiklehrer bewirkten, dass die Jüngeren anti-nuklear sozialisiert wurden." Da die Opposition und große Teile der Bürger gegen Atomkraft sind, könne man nicht immer weiter gegen die gleiche Wand laufen. "Gebt auf", rief Eisenbeiß der Regierung zu, aber auch Leuten wie Gerd Jäger.

Der RWE-Vorstand denkt nicht primär in diesen Kategorien, ihn beschäftigt das Ökonomische. "Wir sehen die Unsicherheiten, das ist ein echtes unternehmerisches Risiko", sagt er. Durch die seit Januar 2011 geltende Kernbrennstoffsteuer würde jedes der 193 Brennelemente künftig statt einer Million rund drei Millionen Euro kosten.

Dass vor dem Start der Steuer im Reaktor Biblis B 92 Brennelemente ausgetauscht und so 280 Millionen Euro gespart werden, sieht Jäger als legitim an - schließlich gebe es technische Gründe, da der Reaktor wegen eines Turbinenschadens heruntergefahren werden musste und solche Stillstände dann zum Brennelementetausch genutzt würden.

Viele Bürger hätten sich schließlich auch noch rasch günstige Photovoltaikanlagen besorgt, um vor der im Januar 2011 in Kraft getretenen Förderkürzung von den höheren Subventionen zu profitieren - ohne, dass sich jemand darüber aufregt, hält Jäger der Kritik an angeblicher Trickserei entgegen. Süffisant verweist RWE auf einen Fernsehbeitrag, wo Landwirte mit Heizstrahlern im Dezember den Schnee auf ihren Dächern zum Schmelzen brachten, um Photovoltaikanlagen zu installieren und so noch von den höheren Fördersätzen zu profitieren.

Die Alternative zu den Zahlungen an den Bund für längere Laufzeiten sei es, 7.500 Megawatt an RWE-Kernkraftwerksleistungen einfach so wegzuwerfen. "Ein volkswirtschaftlicher Irrsinn", sagt Jäger. Was er verschweigt: Abbezahlte Atommeiler sind aufgrund günstiger Produktionskosten quasi Gelddruckmaschinen. Dennoch bewerten Börsenanalysten den Atom-Vertrag mit der Regierung kritisch. Nicht nur wegen der Zahlungen der Betreiber von insgesamt 30 Milliarden Euro, sondern auch wegen der Planungsunsicherheit wegen eines möglichen rot-grünen Regierungswechsels und der Klagen.

Jäger wehrt sich gegen den Vorwurf, nichts für die Öko-Wende zu tun. Neben Investitionen in Windmühlen auf hoher See beteilige man sich auch am Neubau des 1.400-Megawatt-Pumpspeicherwerks Schluchsee in Baden-Württemberg.

"Hier arbeiten Profis"

Aus dem Reaktor heraus geht es nach der dicken Metallschleuse über eine weiße Matte, die Schuhe kleben daran fest und jeder Schritt hört sich an wie Tesafilm, das von einem Tisch abgezogen wird. Die Matte soll beim Rausgehen mögliche Strahlen-Partikel ablösen. In weiteren Schleusen werden Arme, Beine und Kopf untersucht. Gibt es Probleme, ertönt eine eindringliche Frauen-Stimme: "Sofort beim Strahlenschutz melden. Sofort beim Strahlenschutz melden." Dann heißt es erstmal duschen.

Der Leitstand des Reaktors versprüht den Charme der 80er Jahre. Erbsengrüne Türen, ein großes großes Oval mit hunderten Reglern und eine altbackene Holzvertäfelung. Schichtleiter Hermann-Josef Hempelmann (54) sieht überhaupt kein Problem, wenn das Kraftwerk häufiger rauf- und runtergeregelt werden muss, um die schwankende Ökostromerzeugung auszugleichen. Auch eine Betriebsblindheit gebe es nicht. "Hier arbeiten Profis", sagt er. Da man die Lage im Griff habe, freue er sich auf die Ernstfall-Simulationen, die zwei Mal im Jahr in orginalgetreu nachgebauten Leitständen in Essen stattfinden. "Da fahren wir richtig Störfall", sagt Hempelmann.

Wieder draußen ist beim Blick über den RWE-Kraftwerkspark der 1977 stillgelegte Atommeiler Lingen zu sehen. Er ist ein Symbol für den schwierigen Rückbau der nuklearen Energieerzeugung. In einigen Jahren soll der Reaktor verschwunden sein. Man werde dafür sorgen, dass hier in Zukunft nichts mehr von der Kernenergie zu spüren ist, sagt der Leiter des Kraftwerksparks, Hubertus Flügge. "Wir werden es erleben, dass es demnächst dort wieder eine grüne Wiese gibt. Anstelle des Kernkraftwerks wird dort dann ein Gedenkstein stehen."

dpa