Büßen und Beten: Größe und Reife statt Sack und Asche

Jesus ist am Kreuz für uns gestorben.
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Jesus trägt die Last auf seinen Schultern für die Christenheit. Hier ist sogar ncoch ein bisschen Platz für Dankesblumen oder Kerzen.
Büßen und Beten: Größe und Reife statt Sack und Asche
Meinem Freund Dieter ist es tatsächlich passiert. Das Unvorstellbarste, das Grottenpeinlichste. Er sitzt dem Brautpaar gegenüber am Tisch, gestikuliert beim Reden und – stößt sein volles Weinglas der Braut übers Kleid! Ein Viertelliter Chianti platscht frontal auf ihren 3000 Euro teuren Traum aus cremefarbener Seide.

Vergessen hat die Szene niemand. Die Braut kämpfte den Rest des Abends mit den Tränen. Dieter wünschte inständig, die Erde möge sich auftun und ihn verschlingen. Aber weil sie das nicht tat, wurde aus Schrecken irgendwann Mitleid und aus Ärger sogar Vergebung. Weil alle sahen, wie sehr es ihm leid tat. Hätte sich der Tollpatsch stattdessen wortreich gerechtfertigt – "Es sollte eh kein Rotwein in der Nähe heller Abendkleider serviert werden! Und wenn, dann nur in Tetrapaks mit Strohhalm! Nach dem Fototermin kann die Braut doch ein T-Shirt tragen beim Essen!" – wir hätten Dieter wahrscheinlich gelyncht.

Menschen, die sich nie einer Schuld bewusst sind, keine Fehler zugeben können und sich für alles selbst rechtfertigen, sind unerträglich. Wortbrüchige Politiker, betrügerische Vermögensberater, mobbende Chefs und Kollegen, unsensibel für die Leiden der Geschädigten und blind für die Folgen ihres Verhaltens, mögen kurzfristig erfolgreich sein. Langfristig ernten sie empörte Verachtung und soziale Isolation. Es ist deshalb kein Zeichen von Schwäche, sondern von menschlicher Größe; es ist nicht etwa mangelndes Selbstbewusstsein, sondern echte Persönlichkeitsreife, wenn jemand laut und ehrlich sagen kann: "Es tut mir leid!"

Verwandt mit Jom Kippur

Die Bibel nennt dieses – ebenso vernünftige wie tapfere – Verhalten "Metanoia". Umdenken, Umkehr. Luther übersetzte es mit einem religiösen Fachbegriff: "Buße". "Und der Herr sprach zu Mose: Am zehnten Tag des siebenten Monats sollt ihr fasten und keinerlei Arbeit verrichten (...) , denn an diesem Tag werdet ihr mit mir, dem Herrn versöhnt und von aller Schuld befreit, die auf euch lastet. Der ganze Tag muss ein Ruhetag sein, an dem ihr fasten sollt. Haltet euch für alle Zeiten daran." (3. Mose 16,29 – 31) Dieser sogenannte "Versöhnungstag" ist seit Jahrtausenden das höchste Fest im Judentum: Jom Kippur. Ein arbeitsfreier Wochentag im Herbst, der als Vorbild und Inspiration für einen "Tag der Buße" bei den frühen Christen im Bewusstsein blieb.

Ausgangspunkt sind zwei einfache Beobachtungen. Erstens: Es gibt Schuld, die kann zwar strafrechtlich gesühnt, aber menschlich ehrlicherweise nicht verziehen werden. Die ist für den Geschädigten nicht damit aus der Welt, dass der Täter "seine Jahre abgesessen hat". Solche Schuld würde sich auch durch Rache und Vergeltung nur multiplizieren – wenn nämlich nicht Rotwein auf ein Brautkleid gepladdert, sondern eine Frau vergewaltigt, ein Mann rollstuhlreif geprügelt oder eine ganze Familie, ein Dorf, eine Volksgruppe niedergemetzelt worden wäre. Und zweitens: Es gibt Schuld, die könnte ich mir sogar nach einem strafrechtlichen Freispruch niemals verzeihen: Wenn zum Beispiel ein Kind totgefahren unter meinem Auto liegt. Weder die Todesstrafe für den Verbrecher noch der Selbstmord des Fahrlässigen können das Unverzeihliche unschädlich machen.

Dann und deshalb, das ist die Überzeugung evangelischer Christen, tilgen nicht menschliche Opferleistungen die Schuld, sondern das Sterben des Jesus von Nazareth am Kreuz. Dann tritt eine göttliche Stellvertretung in Kraft, eine „Rechtfertigung allein aus der Gnade Gottes“, der sich selbst in seinem Sohn in die Tiefe von Schuld und Leiden begeben hat. Für jeden, der sich darauf beruft und Reue zeigt. Der „Buße tut“, um es biblisch auszudrücken. "Und Johannes . . . zog durch das ganze Gebiet am Jordan. Überall forderte er die Leute auf: ‚Ändert euch von Grund auf! Kehrt um zu Gott und lasst euch als Zeichen dafür taufen. Dann wird euch Gott eure Sünden vergeben.‘ . . . Da wollten die Leute wissen: ‚Was sollen wir denn tun?‘ Johannes antwortete: ‚Wer zwei Hemden hat, soll dem eins geben, der keines besitzt. Und wer etwas zu essen hat, soll seine Mahlzeit mit Hungrigen teilen.‘" (nach Lukas 3,3.10.11)

Die Rede von sozialer Gerechtigkeit

Warum redet der erste "Bußprediger" des Neuen Testaments, Johannes, sofort von sozialer Gerechtigkeit? Es gibt außer der versehentlichen Fahrlässigkeit und der absichtsvollen Schurkerei offenbar noch eine dritte Art, schuldig zu werden: durch strukturelle, institutionelle Gewalt und Ungerechtigkeit. Das ist keine Erfindung wollsockiger Polit-Sensibelchen, sondern Bestandteil fast jeder Nachrichtensendung: Morgens im Bad verbrauche ich zum Duschen und Zähneputzen schon mehr Wasser, als eine Familie in Darfur pro Tag zum Trinken hat, ziehe ein Hemd an, das rechtlose Billiglohnarbeiterinnen in Indien gewebt haben, und trinke Kaffee, an dem die Plantagenpflücker kaum was verdienen. Niemand hätte was davon, wenn ich nichts mehr konsumierte und auf eine Parkbank umzöge. Aber viele haben was davon, wenn ich "mit meinem Überfluss ihren Mangel behebe", wie der Apostel Paulus die Christen in Korinth ermahnt. (2. Korinther 8,14) Wenn ich "Buße tue, indem ich mein Brot teile" wie es Johannes der Täufer nannte.

Genügend Gründe für einen hochgeachteten "Buß- und Bettag" also? Leider war’s nicht ganz so einfach. "Da unser Herr und Meister Jesus Christus spricht: ‚Tut Buße‘ . . . , hat er gewollt, dass das ganze Leben der Gläubigen Buße sein soll!" Das schrieb der Theologieprofessor und Mönch Martin Luther in der ersten seiner 95 Thesen, die er am 31. Oktober 1517 in Wittenberg veröffentlichte. Wenn die Leute im Beichtstuhl ihre Verfehlungen beichteten, dann verhängte der Priester damals sogenannte "Buß-Übungen", mit denen man seine Schuld tilgen und sich das ewige Seelenheil verdienen konnte: eine Anzahl von Gebeten, Fastenzeiten, Almosen oder Wallfahrten. Im 16. Jahrhundert bot dieselbe Institution, die die Strafen auferlegte, auch gleich eine bequeme Vermeidung derselben an: durch Geldspenden an die Kirche. Der Sünder zahlte, bekam eine Quittung – "Ablasszettel" genannt – und ihm wurde versichert: "Wenn das Geld im Kasten klingt, die Seele in den Himmel springt."

Luther protestierte dagegen, dass echte Reue und die aufrichtige Bitte um Vergebung zu einem vulgären Kuhhandel verkommen waren. "Umdenken" und "Umkehren" – zu Gott und zum bedürftigen Nächsten nämlich – definierte er als eine permanente innere Haltung, als ein Grundvertrauen auf Jesus Christus und die tatsächlich Schuld tilgende, Fehler kompensierende Gültigkeit seines Todes am Kreuz. Praktische Taten der Wiedergutmachung, Spenden und gute Werke aus Nächstenliebe seien eine Auswirkung dieser "Buß"-Haltung, keine Ersatzhandlung, meinte Luther.

Auf Anweisung eines Katholiken

Doch auch eine immerwährende innere Einstellung kann äußere Haftpunkte, kann "Erinnerungszeichen" gebrauchen. Wie zum Beispiel einen Feiertag im Kalender. Der erste evangelische Bußtag fand auf Anweisung eines Katholiken statt: "Kaiser Karl V. hatte [1532] für die Christenheit ein Gebet gegen die Türken angeordnet, die bis vor die Tore Wiens vorgerückt waren." Der Straßburger Reformator Martin Bucer befürwortete das für die Protestanten, "nachdem ihnen auf dem Reichstag zu Nürnberg vorläufig freie Religionsausübung (. . .) zugestanden worden war." 1

Die Kirchengeschichtsbücher formulieren es freundlich: Die ersten evangelischen Christen waren vielerorts nur durch ihre jeweiligen Landesfürsten vor den Scheiterhaufen der katholischen Inquisition geschützt. Also erfüllten sie, verständlicherweise, was der Regent von ihnen verlangte. Und göttlichen Beistand in politischen Krisen hat noch jeder Herrscher gern herbeibeten lassen – vom römischen Kaiser Konstantin bis zum letzten deutschen Kaiser Wilhelm II.

Damit verlagerte sich der inhaltliche Schwerpunkt eines "Buß-Tages" zwar von der Gewissensprüfung, dem Schuldbekenntnis, der Bitte um Vergebung und dem Dank für die Rechtfertigung durch Christus zu einem "Gebet für die Obrigkeit", aber das verrichteten Protestanten offenbar gerne: 1878 gab es in Deutschland 47 verschiedene Buß-Tage an 24 Terminen. Erst 1934 legte die evangelische Kirche den "Buß- und Bettag" einheitlich auf den letzten Mittwoch vor dem sogenannten "Ewigkeitssonntag" Ende November fest. Fünf Jahre später bugsierte Adolf Hitler ihn auf einen Sonntag und schaffte ihn damit de facto schon wieder ab. Auch die neuen, diesmal roten, Diktatoren in Luthers ostdeutscher Heimat legten ab 1966 keinen gesteigerten Wert auf fromme Fürbitte und in Westdeutschland wurde der Buß- und Bettag länderübergreifend erst 1981 Feiertag.

Kritik nach Abschaffung

"Den Buß- und Bettag als arbeitsfreien Feiertag abzuschaffen war eine unnötige, schädliche Maßnahme!" Das sagte der EKD-Ratsvorsitzende und Landesbischof Wolfgang Huber im Herbst 2008. 14 Jahre zu spät, könnte man meinen, denn: Am 26. Mai 1994 hatte der Bundestag eine Erhöhung der Beiträge für die Pflegeversicherung – inzwischen sind das 1,95 Prozent vom Bruttolohn – beschlossen, die von Arbeitgebern und Arbeitnehmern je hälftig zu bezahlen seien. Die Arbeitgeber protestierten, diese Mehrbelastung sei nur durch Mehrarbeit ihrer Arbeitnehmer abzufedern. Was tun? Einen Urlaubstag aus den gesetzlich garantierten sechs Wochen pro Jahr streichen? Den aus der DDR-Vergangenheit belasteten 1. Mai opfern? Oder den theologisch-inhaltlich bedeutungsschwachen Pfingstmontag? Keineswegs. Die Helmut-Kohl-Regierung ließ einen der "evangelischsten" kirchlichen Feiertage aus dem Kalender verschwinden: den Buß- und Bettag. Und als die Protestanten protestierten – zu schwach, zu spät, zu uneinheitlich – da konterten Kanzler Kohl und sein Arbeitsminister Blüm in der ihnen eigenen Verschmitztheit, Feiertagsregelungen seien letztendlich Sache der Länder.

Na denn, sagte das Bundesland Sachsen und behielt ihn als arbeitsfreien Feiertag bei. Was sächsische Arbeitnehmer mit einem 0,5 Prozent höheren Pflegeversicherungsbeitrag bezahlen. In Bayern haben die Kinder schulfrei, ihre Eltern und Lehrer aber nicht arbeitsfrei – was die Familien in Betreuungsprobleme stürzt statt ins Gebet führt. Und wenn in den anderen 14 Bundesländern ein Arbeitnehmer an diesem Mittwoch in einen Gottesdienst gehen möchte, muss ihm das erlaubt werden, sagt das Arbeitsrecht. Kurz: Das Chaos ist komplett. Doch der Widerstand wurde kreativ, und auch das ist wahrscheinlich typisch evangelisch: "Menschen, die ihre Verfehlungen verheimlichen, haben keinen Erfolg im Leben. Aber alle, die ihr Unrecht bekennen und aufgeben, finden Gottes Erbarmen." (Sprüche 28,13) So steht’s in der Sprichwortsammlung des Alten Testaments und deshalb haben sich die spirituellen Veranstaltungsangebote zum Buß- und Bettag in den letzten Jahren eher vermehrt und vernetzt – interessanterweise vielerorts sogar ökumenisch, gemeinsam mit katholischen Christen.

Eingeständnisse wirken entlastend

In solchen Buß-Gottesdiensten werden die Fehler der Gesamtgesellschaft thematisiert – Rassismus, Umweltzerstörung, Armut, Kindesmissbrauch, Korruption – oder die der Kirche: Intoleranz, Selbstgefälligkeit, Verkrustung, Substanzverlust. Man beklagt und bereut strukturelle oder individuelle Schuld im Gebet vor Gott. Ganz gleich, was davon im Mittelpunkt des Gottesdienstes steht, immer geht es um die Erfahrung, dass Eingeständnisse entlastend wirken. "Buße", evangelisch verstanden, hat eine befreiende, versöhnende Wirkung. Und es ist ein Zeichen von Größe und Reife, wenn jemand sagen kann: "Es tut mir leid." Das bekleckerte Brautpaar von damals ist übrigens bis heute mit Dieter gut befreundet. Und wenn sie mit ihm auf die Fotos vom Hochzeitsdinner anstoßen, sitzt er nicht in Sack und Asche am Tisch.

(1) Christoph Maaß, zitiert nach Michael Wermke, Der Buß- und Bettag in theologischer und religionspädagogischer Perspektive, in: Materialdienst des religionspädagogischen Instituts Loccum, Loccum 2004, S. 4.


Andreas Malessa  ist Hörfunk- und Fernsehjournalist bei SWR, HR und Deutschlandradio Kultur, Zeitungskolumnist, Autor sati­ri­scher Kurzgeschichten und evangelisch-freikirchlicher Theologe. Sein Text ist erschienen in "Beffchen, Bibel, Butterkuchen. Expedition ins evangelische Leben", hg. von Petra Schulze in der edition chrismon, Frankfurt a.M. 2009. Das Buch zur Sendereihe im Deutschlandfunk erklärt in 30 Beiträgen Vokabeln, Feste und Requisiten aus dem evangelischen Leben - für Kirchenerfahrene wie für Einsteiger. Ein prominentes und kundiges Autoren-Team nimmt die Leserinnen und Leser mit auf Forschungsreisen in die Welt der Protestanten, um altes Wissen neu zu entdecken.