Theater: Amok-Integration in "Verrücktes Blut"

Theater: Amok-Integration in "Verrücktes Blut"
Thilo Sarrazin warf den Muslimen in Europa fehlenden Willen zur Integration vor, radikale Christen in den USA wollten zum 11. September Koran-Exemplare verbrennen. Sarrazin hat seinen Posten als Bundesbankvorstand abgeben, und die Evangelikalen ruderten zurück - dann wieder vor. Stereotype und Vorurteile über Muslime aber bleiben. Das Theaterstück "Verrücktes Blut" konfrontiert das Publikum hart, ungeschminkt und witzig mit Klischees: Das Stück feierte nun Premiere in Berlin.
10.09.2010
Von Silke Kehl

Die zierliche Lehrerin im grauen Kostüm läuft Amok: Mit der Pistole in der Hand hält sie ihre sieben Schüler in Schach. Ferit, Hakim, Bastian und Musa tragen Mützen und weite Trainingsklamotten. Mariam trägt ein Kopftuch. Sie verkörpern das Klischee des integrationsunwilligen Jugendlichen mit Migrationshintergrund. Sie akzeptieren weder ihre Lehrerin noch die Schule an sich als Autorität. Das demonstrieren sie mit lässigen, aggressiv provozierenden Gesten. Statt Schillers "Räuber" zu lesen, kratzen sich alle im Schritt, schreien "Halt die Schnauze, Du Muschi" ins Mobiltelefon und spucken synchron auf den Boden.

"Verrücktes Blut" haben Regisseur Nurkan Erpulat und Dramaturg Jens Hillje ihre freie Adaption des Films "La Journée de la Jupe" (von Jean-Paul Lilienfeld, 2009) genannt. Im Film spielt Isabelle Adjani eine Lehrerin im Banlieu – einem sozialen Brennpunkt: Sie kann sich gegen die aggressiven Einwandererkinder nicht durchsetzen. Erst als ihr die Waffe eines Schülers in die Hände fällt, wird sie Herrin über die respektlose Klasse. Sie zwingt die afrikanisch und arabisch stämmigen Jugendlichen zur Lektüre des französischen Klassikers Molière. In der Berliner Adaption von Erpulat und Hillje spielt Sesede Terziyan die Lehrerin Sonia Kelich. Und ihr großes Ideal heißt Friedrich Schiller.

Schiller mit Gewalt

"Alter, der Schiller geht mir am Arsch vorbei", sagt Musa. Dabei solle Bildung ihn retten, wiederholt Lehrerin Sonia Kelich. Sie verkörpert den Appell deutscher Politiker, die in Bildung den Schlüssel zur Integration sehen. Die geladene Pistole macht aus ihr eine Furie. Sie traktiert die unzugänglichen, höhnischen Migrantenkinder mit der deutschen Sprache und dem deutschen Idealismus. "Warum versuchen Sie uns mit Gewalt beizubringen, dass Gewalt keine Lösung ist?", fragt eine Schülerin. "Weil es anders nicht geht. Weil ihr rausgeschmissenes Geld seid." Die Schauspieler haben viele Dialoge improvisiert. Dass in den Texten daher die von Thilo Sarrazin ausgelöste Debatte anklingt, liegt nahe.

Das Bühnenbild unterstreicht, dass es in dem Stück um Projektionen geht. Die Bühne besteht aus einer quadratischen, eingefassten Glasfläche. Das wirkt wie ein riesiger Overhead-Projektor, die Fläche wie eine Folie. Darum herum stehen Holzstühle aus einem Klassenraum, von der Decke hängt ein Flügel. In einer eindringlichen Szene will Sonia Kelich ihrer Schülerin Mariam ganz unbedingt zur Emanzipation verhelfen: "Leg Dein Kopftuch ab, befrei Dich", fordert sie. "Ich bin aber nicht unterdrückt", erklärt Mariam. Doch ihr "Nein" wird nicht akzeptiert. Wer glaubt denn, dass muslimische Frauen sich tatsächlich freiwillig für das Kopftuch entscheiden?

Parodie auf Necla Kelek

Die Lehrerin repräsentiert scheinbar die deutsche Mehrheitsgesellschaft, doch am Ende erfahren die Schüler, dass auch sie türkische Wurzeln hat. Sie sei eine Parodie auf die Islam-Kritikerin Necla Kelek, bestätigt Regisseur Erpulat. Er zeichnet die Figur Sonia Kelich als eine übereifrig Emanzipierte. Schauspielerin Sesede Terziyan setzt dies um, indem sie fast vor Lust zittert, wenn die eben noch stammelnden Schüler auf einmal laut Schillers Zeilen deklamieren. "Es funktioniert", ruft sie.

Denn im erste Teil des Stücks scheint das jugendliche Revoluzzer-Stück von Schiller auf einmal perfekt zu den Angry young Men aus Neukölln, Kreuzberg oder Wedding zu passen: Kraftstrotzende Männlichkeit, Ehrenmord und gesellschaftliche Restriktionen lassen sich sehr gut mit Parallelgesellschaft assoziieren. Theater als Läuterung, das Konzept scheint zunächst aufzugehen. Der Schüler Ferit (gespielt von Tamer Arslan) blüht auf in der Rolle des Karl Moor. Und der von der Clique unterdrückte Hasan spürt als Franz Moor zum ersten Mal im Leben, dass er "Eier hat". Diese magischen Momente werden von kurzen musikalischen Effekten unterstrichen.

Westliche Werte

"Der Mensch ist nur da ganz Mensch wo er spielt", zitiert Sonia Kelich begeistert. Schillers Ideal von der ästhetischen Erziehung des Menschengeschlechts will sie durch die schauspielernden Schüler lebendig werden lassen. Die europäisch-westliche Tradition der Aufklärung solle Leitbild für die Kinder sein: "Eure Eltern sind nach Deutschland gekommen, damit es Euch einmal besser geht als ihnen", ruft Kelich pathetisch. Die Erziehung zur Mündigkeit wird in Erpulats und Hilljes Stück jedoch völlig persifliert.

Als nach einer Rangelei die Schülerin Mariam die Pistole in die Hand bekommt, kippt die Situation. Die Lehrerin sitzt angeschlagen in der Ecke, und Mariam übernimmt die Kontrolle. In einem melodramatischen Akt legt sie das Kopftuch ab, um den größten Macho der Gang, Musa, damit zu fesseln. Sie schreit die Jungs in Grund und Boden, mutiert zu einer Über-Emanze. Und als sich herausstellt, das Musa den schwächeren Hasan für Pornofilme missbraucht hat, verurteilen die Schüler den Verbrecher nicht zur Hinrichtung, sondern geben ihm die Chance, neu zu beginnen – ganz im Sinne liberaler westlicher Wertvorstellungen.

Keine Haltung?

"Verrücktes Blut" arbeitet mit krassen Klischees und ironischen Brechungen. Zwischen den einzelnen Szenen singen die Schauspieler traditionelles deutsches Liedgut: "Wenn ich ein Vöglein wär" oder "Ade Du mein lieb Heimatland". Die Kiez-Gangster mutieren zum sanften Kinderchor. Die Inszenierung ist von vorne bis hinten kraftvoll und wirklich witzig. Aber Antworten gibt sie nicht. Dass die am Ende zu "Gutmenschen mutierten" (Regisseur Erpulat) Jugendlichen herumspringen wie eine Horde Affen, kann man als kongeniale Umsetzung einer Dialektik der Aufklärung lesen. Oder als Belanglosigkeit, die sich einer Positionierung verweigert.

Alles nur Spiel, alles nur Kunst? Im Programmheft zu "Verrücktes Blut" wird auch Jürgen Habermas zitiert: "Schiller setzt auf die kommunikative, gemeinschaftsstiftende, solidarisierende Kraft, auf den öffentlichen Charakter der Kunst." Das ist Nurkan Erpulat und Jens Hill e gelungen – zu verdanken haben sie das aber vor allem ihren temperamentvollen, überzeugenden Schauspielern.

Hinweis: "Verrücktes Blut" ist eine Kooperation mit der Ruhrtriennale 2010, Premiere war am 2. September in Duisburg. Das Stück wird vom 10. bis 14.9. im Ballhaus Naunynstraße, Naunynstraße 27, 10997 Berlin aufgeführt. Weitere Vorstellungen Ende November/Anfang Dezember 2010.


Silke Kehl ist Absolventin der Evangelischen Journalistenschule. Sie arbeitet als freie Journalistin mit dem Schwerpunkt Kultur in Berlin.