Jakobsweg: Glaubenserfahrung und gute Geschäfte

Jakobsweg: Glaubenserfahrung und gute Geschäfte
Heute ist Jakobstag, und da der 25. Juli auf einen Sonntag fällt, ist zugleich Heiliges Jahr. Besonders viele Menschen begeben sich als Pilger auf den Jakobsweg nach Santiago de Compostela - unter ihnen auch zahlreiche Protestanten. Dabei stand in den evangelischen Ländern Europas das Pilgern einst sogar unter Strafe.
23.07.2010
Von Ingo Schütz

Die Zahlen sind bemerkenswert: Noch vor 40 Jahren wurden auf dem Jakobsweg, der sich im Norden Spaniens bis hin zur Kathedrale von Santiago de Compostela bewegt, in einem ganzen Jahr gerade einmal 451 Pilger gezählt. Vor 20 Jahren waren es schon knapp 100.000 Menschen, die die letzten hundert Kilometer bis zum Ziel zu Fuß bewältigten. Im letzten Heiligen Jahr, das 2004 begangen wurde, sind es sogar doppelt so viele gewesen. Welche Massen sich 2010 über die staubige Route quälen werden, ist bis jetzt noch nicht abzusehen.

Der Kerkeling-Effekt

Das Pilgern erlebt eine wahre Renaissance. Seit gut vier Jahren wird die Begeisterung, geistlich zu wandern, zudem durch den Megaseller "Ich bin dann mal weg" von Hape Kerkeling befeuert. Nachdem er den Bericht über seine persönlichen Erfahrungen auf dem "Camino" veröffentlicht hatte, stiegen die Zahlen der Pilger in Nordspanien zusätzlich an; dort spricht man auch ganz offen vom Kerkeling-Effekt.

Dass der historische Hintergrund des Wallfahrtsortes und damit des Ziels ihrer Reise ausgesprochen zweifelhaft ist, stört dabei kaum einen der Pilger. Der Legende nach soll der Apostel Jakobus nach dem Tod und der Auferstehung Jesu nach Spanien gereist sein, um dort die frohe Botschaft zu verkünden. Sein mutmaßliches Grab wurde aber erst im 9. Jahrhundert entdeckt. Ein Eremit, so die Legende, habe über einem bestimmten Feld einen Stern besonders hell leuchten sehen.

Dadurch sei er zu den Gebeinen des heiligen Jakob geführt worden. Daher rührt auch der Name: Das "Sternenfeld", lateinisch "campus stellae", wurde im Spanischen zu Compostela, und Santiago ist die Kurzform von Sankt Jakobus. Dass der Apostel wirklich jemals in Spanien gewesen ist, gilt heute als unhistorisch. Interessiert hat das die Menschen aber selten, vor allem nicht am Ziel ihrer Wanderung, der prächtigen Kathedrale von Santiago de Compostela (Foto: iStockphoto). Gegen Mythen ist kein Kraut gewachsen.

Die Windeln des Jesuskindes

Das Wort "Pilger" seinerseits ist zurückzuführen auf den lateinischen Begriff "peregrinus", zu deutsch in etwa "von hinter dem Acker sein". Der Pilger ist damit vor allem als ein Fremder identifiziert, so die landläufige Übersetzung des Begriffs. Einen solchen Fremden um das Geld zu erleichtern, der er auf seiner Fahrt mitführte, war zu allen Zeiten attraktiv. Schon im Mittelalter erlebte das Pilgern darum eine Kommerzialisierung, die bis heute anhält.

Mancherorts war man sehr erfinderisch, wenn es darum ging, das Geld der Reisenden einzunehmen: In Aachen beispielsweise wurden ab dem 14. Jahrhundert regelmäßig die heiligen Reliquien gezeigt, unter anderen die Windeln Jesu. Da der Andrang groß war und nicht alle etwas sehen konnten, verkauften die Bürger kleine Spiegel, die man sich als Pilger schräg über den Kopf hielt, um so doch noch einen ersehnten Blick zu erhaschen.

Pilgern im "Schlappenbereich"

Die "Aachener Pilgerspiegel" sind heute Geschichte; der Kommerz ist es nicht. Auch in der Gegenwart lässt sich mit dem Pilgern noch gutes Geschäft machen. Zahllose Bücher und Berichte warten auf Käufer, aber auch spezielle Wanderstäbe und andere Devotionalien, mit denen sich entlang der Pilgerrouten Geld verdienen lässt. Die Zahl der möglichen Wege, auf denen Gläubige heute wandern können, ist in den vergangenen Jahren ebenfalls sprunghaft angestiegen.

So zeugen der Elisabethpfad von Marburg nach Wetzlar, die Bonifatius-Route von Mainz nach Fulda und der Lutherweg in Sachsen-Anhalt von der neuen Attraktivität des Pilgerns. Anfang des Jahres wurde gar im Ruhrgebiet ein neuer Weg ausgewiesen, der das "Pilgern im Pott" möglich machen soll – "im Schlappenbereich", wie die Initiatoren meinen, die vor allem die Ruhrpottbewohner selbst zum Pilgern motivieren möchten.

Luther warnt vor falschem Wahn

Dabei war das Pilgern ursprünglich ein keineswegs angenehmer Zeitvertreib. Für den Fußmarsch aus der Mitte Europas an seinen westlichen Rand und zurück ging in der Regel ein ganzes Jahr ins Land, in dem viele Reisende unter die Räuber oder Krankheiten zum Opfer fielen. Die protestantischen Kirchen hatten aber noch ganz andere Gründe, sich ab dem 16. Jahrhundert kritisch bis feindlich zum geistlichen Wandern zu äußern. "Beim Pilgern werden einfältige Menschen vorgeführt in einem falschen Wahn und Unverständnis göttlicher Gebote", warnte Martin Luther.

Der Reformator wehrt sich gegen die verbreitete Vorstellung, dass man Gott mit seiner Pilgerleistung gnädig stimmen könne oder müsse. Schließlich lebt der Protestantismus von der Überzeugung, dass allein der Glaube einen Menschen selig macht, dass es also keinerlei guter Werke bedarf. In Norwegen stand ab dem Jahr 1537, als die Reformation ins Land kam, das Pilgern aus diesem Grund sogar unter Todesstrafe. Zuletzt solle man sich aber wenigstens aus historischen Gründen hüten, zu viel von einer Pilgerreise auf dem Jakobsweg zu erwarten, so Luther: "Man weiß nit, ob Sankt Jakob oder ein toter Hund oder ein totes Ross da liegt. Darum: Lass reisen, wer da will – bleib du daheim!"

Ein evangelischer Pilgerpastor

Viele Evangelische stehen dem Pilgern auch heute noch skeptisch gegenüber. Zu groß ist schließlich die Gefahr, in dem absolvierten Weg auch eine "geistliche Leistung" zu sehen, die es aber aus protestantischer Perspektive nicht geben kann. In Hamburg dagegen gibt es seit 2008 in Bernd Lohse sogar einen Pilgerpastor, der der gewachsenen gesellschaftlichen Bedeutung des Pilgerns Rechnung tragen soll. Auch er verwahrt sich gegen alle Werkgerechtigkeit, stellt aber heraus, dass geistliches Wandern zu einer "tiefen und reifen Glaubenserfahrung" führen könne.

Wer es 2010 nicht schaffen sollte, den Jakobsweg zu beschreiten, der muss sich bis zum nächsten Heiligen Jahr noch etwas gedulden. Dass der Gedenktag des Jakobus, also der 25. Juli, auf einen Sonntag fällt, trifft erst im Jahre 2021 wieder zu. Ob der Trend anhält und sich dann abermals deutlich mehr Pilger auf den Weg machen als in den Heiligen Jahren zuvor? Kommerztreibende würde das sicher freuen. Martin Luther eher nicht.


Ingo Schütz ist angehender evangelischer Pfarrer und leidenschaftlicher Wanderer – auch abseits der markierten Pilgerwege.