Lutheraner aus aller Welt versammeln sich in Stuttgart

Lutheraner aus aller Welt versammeln sich in Stuttgart
Stuttgart ist von heute an Zentrum der evangelischen Welt: Bis zum 27. Juli treffen sich Delegierte aus den 140 Mitgliedskirchen des Lutherischen Weltbundes (LWB) in der baden-württembergischen Landeshauptstadt zur 11. Vollversammlung.
19.07.2010
Von Stephan Cezanne

Zuletzt trafen sich die Lutheraner 1990 in Brasilien, 1997 in Hongkong und 2003 in Kanada. Zum zweiten Mal findet die LWB-Vollversammlung in Deutschland statt, die Premiere gab es 1952 in Hannover. Die Vollversammlung ist das oberste Entscheidungsorgan des Bundes von rund 70 Millionen Christen und findet in der Regel alle sechs Jahre statt.

Das Großtreffen im Mutterland der Reformation steht unter dem Leitthema "Unser tägliches Brot gib uns heute". Die vierte Bitte des Vaterunsers steht für ein breites Spektrum an Themen: Die mehr als 400 Delegierten und mehr als 1.000 weitere Tagungsteilnehmer wollen im Stuttgarter Kongresszentrum Liederhalle "prophetische Antworten auf alle Ungerechtigkeiten" finden, die das Leben der Menschheit bedrohen, wie es im Vorfeld hieß.

Armut, Wassermangel, Aids

Dies sind unter anderem Armut, Mangel an sauberem Wasser, Aids, negative Folgen einer neoliberalen Globalisierung, interreligiöse Konflikte sowie die Verletzung der Menschenrechte. Der Lutherische Weltbund ist weltweit ohnehin für sein humanitäres Engagement bekannt. So wurden im Jahr 2008 insgesamt 82 Millionen US-Dollar für humanitäre Nothilfe und Entwicklungszusammenarbeit verwendet. Das sind mehr als 80 Prozent der Gesamtausgaben des kirchlichen Dachverbandes.

Im Mittelpunkt der Vollversammlung sollen denn auch die Themen soziale Ungerechtigkeit, Armut und die Verletzung von Menschenrechten stehen. "Wenn die Menschen Mangel haben, ist das nicht Gottes Fehler, sondern unserer", sagte LWB-Präsident Mark S. Hanson (63) am Montag vor Journalisten. Hunger sei für die Menschen in vielen Mitgliedskirchen kein abstraktes Thema, sondern eine tägliche Erfahrung, fügte der US-amerikanische Bischof hinzu. Dazu gehöre auch der Hunger nach Frieden und Menschenrechten. Menschen, die aufgrund ihres Geschlechts oder einer Aidserkrankung an den Rand gedrängt werden, sollten in die Mitte der Gemeinschaft geholt werden.

LWB-Generalsekretär Ishmael Noko aus Simbabwe (66) zeichnete die Entwicklungen nach, die sich seit der letzten LWB-Vollversammlung auf deutschem Boden ereignet haben. Damals habe etwa die lutherische Kirche Tansanias 20.000 Mitglieder gehabt - heute seien es 5,3 Millionen. Während vor 58 Jahren fast keine andere Konfession an der Vollversammlung beteiligt gewesen sei, seien nun in Stuttgart Katholiken, Anglikaner, Reformierte und Freikirchen präsent.

Der Bischof der gastgebenden Evangelischen Landeskirche in Württemberg, Frank Otfried July, sagte, die Kirchen hätten in einer globalisierten Welt auch eine globalisierte Aufgabe, die Gerechtigkeit zu fördern. "Wer die Barmherzigkeit Gottes erfahren hat, kann sich auf den Weg der Barmherzigkeit machen." Victoria Cortéz Rodríguez, LWB-Vizepräsidentin und Bischöfin in Nicaragua, warb für eine gleichberechtigte Gemeinschaft von Christen aus armen und reichen Ländern. Es gebe keine Lutheraner erster und zweiter Klasse, betonte sie. Auch die Armen hätten viel zu sagen und viel zu geben.

Der Lutherische Weltbund ist die Dachorganisation von 140 Kirchen. Die meisten Lutheraner gibt es in Deutschland mit knapp 13 Millionen. Zur Stuttgarter Vollversammlung werden rund 2.000 internationale Gäste erwartet, darunter 400 Delegierte. Der 1947 im schwedischen Lund gegründete Bund hat heute Zuwachs vor allem bei Kirchen in Afrika und Asien. Dennoch bleibt Deutschland weltweit das Land mit der höchsten Zahl von Christen, die zu lutherischen Landeskirchen gehören - rund 13 Millionen. Die Evangelisch-lutherische Landeskirche Hannovers ist mit mehr als drei Millionen Mitgliedern die größte evangelische Landeskirche in Deutschland.

Größte lutherische Einzelkirche ist nach LWB-Angaben die schwedische Kirche mit mehr als sechs Millionen Lutheranern. Weltweit zweitgrößte lutherische Kirche ist die Evangelisch-Lutherische Kirche in Tansania mit mehr als fünf Millionen und drittgrößte LWB-Mitgliedskirche die Äthiopische Evangelische Kirche Mekane Yesus mit jetzt rund fünf Millionen Christen.

Streit um Sexualethik und Frauenordination

Diese große Bandbreite unterschiedlicher Kulturen und Ethnien löst allerdings auch Reibungen aus. So sind es vor allem lutherische Christen aus dem Süden - aber auch in Osteuropa -, die zu den Fragen Sexualethik, Segnung von gleichgeschlechtlichen Partnerschaften oder Ordination von Frauen zu Pfarrerinnen eine ablehnende Haltung einnehmen, anders als der weitgehend liberale Westen - so gibt es in Schweden die weltweit erste offen lesbisch lebende lutherische Bischöfin.

Noko hofft nach eigenen Worten, dass der innerprotestantische Streit um Homosexualität nicht zum dominierenden Thema in Stuttgart wird. Auf der Tagesordnung stehe das Thema nicht, doch könne es über die Arbeitsgruppen eingebracht werden. Er wies darauf hin, dass der LWB 2007 einen Ausschuss gebildet habe, der bis 2012 den Diskussionsstand innerhalb der unterschiedlichen Mitgliedskirchen zusammenfassen soll.

Wegen des Konflikts um den Umgang mit der Homosexualität steht etwa die anglikanische Weltgemeinschaft am Rand der Kirchenspaltung. Auch auf der LWB-Vollversammlung werden dazu kontroverse Diskussionen erwartet. "Ich vermute, am Ende des Gesprächsprozesses werden die Mitgliedskirchen des LWB sicher nicht gemeinsam erklären, dass sie Homosexualität bejahen, aber dass die unterschiedlichen Auffassungen und Vorgehensweisen in dieser ethischen Frage nicht kirchentrennend sind", sagt der evangelische Theologieprofessor und Ökumenefachmann Joachim Track dem evangelischen Magazin "zeitzeichen".

Versöhnung mit dem "linken Flügel"

In Stuttgart wollen die Lutheraner zudem ein dunkles Kapitel Kirchengeschichte aufarbeiten. Die Verfolgung der Täuferbewegung im 16. Jahrhundert - dem sogenannten linken Flügel der Reformation - war mit lutherischer Theologie gerechtfertigt worden. Für die erlittenen Grausamkeiten, durch die auch viele Menschen ihr Leben verloren, soll eine Bitte um Vergebung verabschiedet werden. Hintergrund sind Verhandlungen zwischen Lutheranern und Mennoniten, einer aus der Täuferbewegung entstandenen historischen Friedenskirche.

Auch ein neuer LWB-Präsident soll in Stuttgart gewählt werden. Der palästinensische Bischof Munib A. Younan aus Jerusalem (59) gilt als aussichtsreichster Bewerber für die Nachfolge von Bischof Hanson, dessen Amtszeit ausläuft. In seiner Videobotschaft zur Vollversammlung ruft Bischof Hanson (Foto: epd-bild) zum entschiedenen Kampf gegen die weltweite Armut auf; die deutsche Übersetzung der Botschaft finden Sie hier. An der Spitze des LWB gibt es einen weiteren Wechsel: Generalsekretär Noko wird nach zwölf Jahren Amtszeit verabschiedet. Sein Nachfolger wird im Oktober der chilenische Theologe Martin Junge (48).

Sie stehen den Katholiken am nächsten

Die Lutheraner haben unter den protestantischen Kirchen die größte Nähe zur römisch-katholischen Kirche und galten lange als Schrittmacher der Ökumene. 1999 verabschiedete der LWB mit dem Vatikan die Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre, in der beide Kirchen ihre gegenseitigen Lehrverurteilungen aus der Reformationszeit aufhoben. Zurzeit verläuft der Dialog eher schleppend, einige sprechen gar von Stillstand. Der lutherische Theologe Track mahnt zur Gelassenheit: "Wer keine Geduld hat, ist für die Ökumene nicht geschaffen."

Info: Der SWR überträgt den Eröffnungsgottesdienst aus der Stiftskirche in Stuttgart von 15 bis 16 Uhr.

epd