TV-Tipp des Tages: "Flug in die Nacht" (SWR)

TV-Tipp des Tages: "Flug in die Nacht" (SWR)
Die beiden Dreiecke auf dem Monitor kommen einander immer näher, verschmelzen schließlich – und verschwinden. Die Kollision zweier Flugzeuge am Himmel über Überlingen - 71 Menschen starben damals in der Nacht zum 2. Juli 2002 - ist nur der Auftakt für Till Endemanns "Flug in die Nacht", eine filmische Elegie über den Konflikt zweier Menschen und das tragische Ende dieser Geschichte.
25.06.2010
Von Tilmann P. Gangloff

"Flug in die Nacht – Das Unglück von Überlingen", 29. Juni, 23.00 Uhr auf SWR

Die beiden Dreiecke auf dem Monitor kommen einander immer näher, verschmelzen schließlich – und verschwinden. Eine schlichte Symbolik für die wohl größte Nachkriegskatastrophe im deutschen Luftraum: In der Nacht vom 1. auf den 2. Juli 2002 kollidierten im Himmel über Überlingen zwei Flugzeuge. 71 Menschen starben, 45 von ihnen waren Kinder aus Russland. Was im gängigen Katastrophenfilm den Höhepunkt bildet, nutzt Till Endemann jedoch nur als Auftakt. Er konzentriert sich auf die Zeit danach, die ebenfalls mit einer Tragödie endete: Eineinhalb Jahre später erstach ein Russe, dessen Familie bei dem Absturz ums Leben gekommen war, den in der Unglücksnacht zuständigen Fluglotsen.

Frappierend an dieser authentischen Entwicklung ist die Analogie zum Unglückshergang: Auch diese tödliche Kollision hat sich lange angebahnt und wäre vermeidbar gewesen. Höchst wirkungsvoll setzt Endemann die parallelen Lebenswege der beiden Betroffenen in Szene: hier der traumatisierte Lotse, der nichts lieber tun würde, als sich bei den Hinterbliebenen zu entschuldigen; dort der schockierte Vater, der auf alle Entschädigungen verzichten würde, wenn sich die zuständige Flugsicherung zu einer Entschuldigung durchringen könnte.

Nuancierte Zwischentöne eines gebrochenen Mannes

Naturgemäß lebt der Film von der indirekten Konfrontation dieser beiden Figuren und ihrer Darsteller, die beim (vorweggenommenen) Ende ihre erste und letzte gemeinsame Szene haben. Ken Duken hat schon in der ebenfalls vom SWR in Auftrag gegebenen Afghanistan-Aufarbeitung "Willkommen zuhause" bewiesen, wie exzellent er jene Zwischentöne beherrscht, die für die nuancierte Verkörperung eines gebrochenen Mannes nötig sind. Der russische Schauspieler und Regisseur Jevgenij Satochin ist ein würdiger Gegenspieler. Die beiden Figuren gehen allerdings auf völlig unterschiedliche Weise mit ihrem Leid um: Während Johann Lenders von Selbstvorwürfen zerfressen wird, reist Yuri Balkajew auf der Suche nach einem Schuldigen immer wieder rastlos aus Ossetien nach Überlingen und Zürich.

Gewissermaßen zwischen den beiden Männern steht Katharina Rohl (Sophie von Kessel), die Anwältin der AirGuideControl. Sie lässt nicht zu, dass sich Lenders entschuldigt, weil dies als Schuldeingeständnis gewertet werden könnte. Damit ist sie Repräsentantin der Firma und daher Projektionsfläche für Antipathien aller Art, doch als die Ergebnisse eines von ihr in Auftrag gegebenen internen Untersuchungsberichts unterdrückt werden, wechselt sie innerlich die Seiten: In der Unglücksnacht war die Flugsicherung wegen Wartungsarbeiten nur in erheblich eingeschränktem Maß möglich; zur Kollision führte letztlich eine verhängnisvolle Kombination von Zufällen sowie technischem und menschlichem Versagen.

Endemann, der das Drehbuch mit dem erfahrenen Amerikaner Don Bohlinger schrieb, hat zuvor erst zwei Langfilme gedreht ("Das Lächeln der Tiefseefische", "Kometen"). Gerade dank der Führung seiner drei Hauptdarsteller ist die enorme Intensität von "Flug in die Nacht" um so eindrucksvoller. Abgesehen von einigen rauchenden Trümmern zu Beginn hält sich der optische Aufwand in Grenzen, das Geschehen konzentriert sich fast ausschließlich auf die tragischen Figuren. Endemann will den Film als Elegie auf die Ereignisse verstanden wissen. Entsprechend groß war sein Respekt vor den Opfern wie auch den Hinterbliebenen. Dieser Respekt zeichnet den Film ebenso aus wie seine große Sensibilität im Umgang mit den Fakten. Auf der anderen Seite lässt Endemann keinen Zweifel daran, dass der Lotse das 72. Opfer der Katastrophe war.


Der Autor unserer TV-Tipps, Tilmann P. Gangloff, setzt sich seit über 20 Jahren als freiberuflicher Medienkritiker unter anderem für "epd medien" und verschiedene Tageszeitungen mit dem Fernsehen auseinander. Gangloff (geb. 1959) ist Diplom-Journalist, Rheinländer, Vater von drei Kindern und lebt am Bodensee. Er gehört seit Beginn der 1990er Jahre regelmäßig der Jury für den Adolf-Grimme-Preis an und ist ständiges Mitglied der Jury Kinderprogramme beim Robert-Geisendörfer-Preis, dem Medienpreis der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD).